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Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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entfernte sie samt Nadel und schnappte sich schnellstmöglich den Tupfer, um den Einstich zuzudrücken. Aber Marvin war nicht schnell genug. Dort floss augenblicklich dunkelrotes Blut heraus und rann in mehreren Bahnen um den Arm herum, tropfte auf das frische gelbe Bettzeug. Es lief kitzelnd bis in seine Achseln, als er seinen Arm verzweifelt steil nach oben hielt und mit der anderen Hand auf den Einstich drückte. So saß er da, voll Blut, den Arm in der Luft, um Schlimmeres zu verhindern, das Bett versaut, und fragte sich nun, wie er in diesem Zustand jetzt endlich zur Toilette gehen sollte. Zeitgleich öffnete sich die Tür und Schwester Sabine kam herein. Diese besaß leider nicht das engelhafte Gesicht der kleinen Schülerin! Sie sah erst ihn an, in seiner gymnastisch anmutenden Position, dann das blutbefleckte Bett, und fragte mit einem Ausdruck totaler Entgeisterung: »Was machen Sie denn?«
    Angesichts seiner Lage und des Blickes der Krankenschwester überkamen Marvin inzwischen Bedenken ob seiner Aktion. Hilflos dasitzend, während sein Arm vom Hochhalten bereits zu kribbeln begann, sagte er nur: »Die Infusion war durch und ich wollte zur Toilette.«
    »Ja – warum warten Sie nicht, bis wir sie abgestöpselt haben? Und wenn Ihnen das zu lange dauert, warum gehen Sie dann nicht einfach mit der leeren Flasche ins Bad oder benutzen den Infusionsständer, der in ihrem Zimmer steht, oder kommen heraus zu uns ins Schwesternzimmer? Die Nadel herauszuziehen, war so ziemlich das Dümmste, was Sie tun konnten!«
    Marvin wurde bewusst, sich gerade als Dummkopf etabliert zu haben, und er schämte sich grenzenlos, während Schwester Sabine ihn stumm, aber mit völlig entnervtem Gesicht mit neuem Tupfer und Klebestreifen versorgte und kopfschüttelnd die Bettdecke abzog. Heimlich schielte er zu seinem Bettnachbarn und sah einen ‚alten Hasen’ vor sich hin grinsen.
    Wie konnte ihm so etwas Blödes nur passieren. Marvin überlegte schon, ob er das Ganze nicht seinem Gehirntumor zuschieben könnte, von dem er eigentlich nichts spürte.
    Als Schwester Sabine mit dem alten Bettzeug schon in der Tür stand, sagte sie leise: »Na – dann gehen Sie mal zur Toilette. Nicht, dass das auch noch daneben geht.«
    Dann verschwand sie, und Marvin konnte wetten, sie berichtete auf direktem Wege sämtlichen Krankenhausangestellten der Station von diesem bescheuerten neuen Patienten. Er bekam jetzt schon Angst davor, er könnte irgendwann einmal ins Bett machen.
    Bald darauf bekam er neue Bettwäsche und die Oberärztin legte eine neue Nadel, diesmal in den rechten Arm. Sie erklärte ihm, dass man Infusionen eigentlich nur abstöpselt und nicht jedes Mal herauszieht, da man sonst ja immer wieder neu stechen müsste, was übrigens nur ein Arzt dürfte und somit zeitaufwendig wäre. Klar, meinte Marvin, und er erwähnte, dass er sich heute gar nicht wohlfühle, irgendwie durcheinander. Das hätte er in letzter Zeit zu Hause häufiger gehabt, da hatte er zum Beispiel Kaffee ohne Filter in die Kaffeemaschine geschüttet und so fort, und er hatte sich schon gestern gefragt, ob das nicht mit der Erkrankung zusammenhängen könnte.
    Die Ärztin antwortete nicht, fragte aber, wie er sich ansonsten fühle, ob er Übelkeit verspüre.
    »Ein wenig, aber es geht schon.«
    Marvin wusste, sein Unwohlsein stammte im Moment einzig von dem Gefühl, sich blamiert zu haben.
    Der Feind im Nachbarbett sagte den ganzen Tag lang nichts mehr. Stattdessen schaltete er ständig den gemeinsamen Fernseher um, genau immer dann, wenn Marvin sich gerade für den einen oder anderen Beitrag zu interessieren begann. Er schwieg dazu und fragte sich wieder einmal, wozu er diese teure Privatversicherung zahlte.
    Abends stöpselten sie ihn von der Infusion ab. Etwas später kam Lisa. Sie trat abgehetzt zur Tür herein, trug ihren Blazer über einem Arm und ihre große rote Ledertasche auf der anderen Seite. Mit einem angedeuteten Kuss auf beide Wangen begrüßte sie ihn, warf dabei ihren Zopf von der Schulter nach hinten. Dann zog sie sich umständlich den Besucherstuhl an das Bett. Unter ihren hektischen Bewegungen wirbelte ihr Pferdeschwanz hin und her, und einmal peitschte er fast in Marvins Gesicht. Am liebsten hätte er ihn festgehalten und seine Nase in ihre weichen Locken vergraben.
    Sie fing an, in ihrer Tasche zu kramen.
    »Entschuldige, ich bin spät. In dieser verdammten Stadt steht man jeden Tag im Stau – du kennst das ja. Der gesamte Cityring stand still.

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