Notizen einer Verlorenen
Buch herumschnüffelte. Wirklich sicher war er sich nicht, ob sie tatsächlich nichts dagegen hätte, wenn ausgerechnet er es las.
Notizen einer Verlorenen
Ich schreibe dies, weil ich Teil eines Geheimnisses bin. Ein Geheimnis, das mich am lebendigen Leib gnadenlos Zelle für Zelle erdrückt. Ich bin schuldig! Das muss ich jemandem mitteilen, deshalb schreibe ich es auf. Wissend, dass ich damit einen Schwur breche ... eine besondere Gemeinschaft verrate ... sie der verständnislosen Normalität aussetze und gleichzeitig unbeantwortete Fragen einer ahnungslosen Welt hinterlasse. Wer sollte das alles verstehen? Wer sollte uns verstehen? Alex, mich und die anderen?
Trotzdem will ich niederschreiben, was mich belastet. Dass meine Schuld damit nicht getilgt sein wird, weiß ich. Vielleicht wird das hier niemand lesen. Vielleicht wird man mir nicht glauben. Mag sein, doch es muss raus aus meinem Kopf und raus aus meinem Herzen!
Jens
Alles begann am 25. Juni 2011, zehn Tage nach meinem dreiunddreißigsten Geburtstag, mit einem verfluchten braunen Briefumschlag, den ich in meinem Briefkasten vorfand.
›An Sarah‹, ohne Absender oder Briefmarke.
Ich war ziemlich gereizt an diesem Tag. Wahrscheinlich lag es an meiner Verabredung mit Jens in der Stadt, denn ich wusste zu diesem Zeitpunkt längst, dass ich meine Zusage bereuen würde. Meine verschwendete Zeit auch. Was er wohl von mir wollte? Sein geheimnisvolles Getue war der einzige Grund, weshalb ich ihm überhaupt zugesagt hatte. Ich bin eben doch neugierig, muss ich zugeben, und Jens hätte sowieso keine Ruhe gegeben. Immerhin wollte er nicht bei mir auftauchen. Ein Treffen in der Essener City – das war mir auf jeden Fall lieber, als bei mir Zuhause. Gott, war ich froh, dass er mich seit ein paar Wochen in Ruhe ließ. Endlich gab es wieder eine Aussicht auf meinen stinknormalen einsiedlerischen und stummen Alltag, wenn man von der Zwangsgemeinschaft im Büro absah. Keine nächtlichen Anrufe mehr, kaum noch Gejammer am Telefon über sein schrecklich einsames Leben, als wäre das meine besser gewesen. Keine Vorwürfe, weil ich ihn verlassen hatte. Verlassen? Verlassen klingt viel zu harmlos! Geflüchtet passt wohl eher.
Ich fuhr mit dem SB15 von Burgaltendorf aus zum Essener Hauptbahnhof und wie immer hoppelte der Bus so grauenhaft über die Ruhrallee, dass es mir unmöglich war, irgendetwas auf meinem Smartphone zu lesen. Aber wer, außer Jens oder meinen Eltern, hätte mir auch schon eine Nachricht gesendet? Wichtig war es also nicht.
Leider hatte ich diesen Umschlag Zuhause in einer anderen Jacke vergessen. So ist das Leben. Man missachtet die Kleinigkeiten, weil man ihnen zu wenig Bedeutung beimisst. Dabei sind es oft genug die Geringfügigkeiten, die sogar Leben kosten können.
Am vereinbarten Ort in der Stadtmitte, an unserem Lieblingskino Lichtburg , wartete Jens und begrüßte mich, indem er wie immer todernst auf mich herabsah. Mit diesem Blick, der in mir all die unguten Gefühle aufkommen ließ. Erinnerungen an eine furchtbar anstrengende Zeit in meinem Leben. Mir fiel wieder einmal auf, wie groß Jens war. Stand ich vor ihm, ohne den Kopf in den Nacken zu legen, reichte ich ihm gerade mal bis zu den Warzen seiner mageren Brust, über denen an diesem Tag ein schwarzes T-Shirt mit der seltsamen Aufschrift Verloren Knitterfalten bildete. Jens erfasste mich mit anklagend zusammengezogenen Augenbrauen. Nicht die Spur eines Lächelns zur Begrüßung in seinem fahlen Gesicht. Mit einem Auge zwinkerte er nervös.
»Da bist du ja endlich!«, sagte er, als wäre ich zu spät gekommen.
Jens hatte es gleich eilig. Flüchtig drückte er mir einen Kuss auf die Wange, der nichts von den kurzlebigen Gefühlen von damals in mir zurückholte. Ein Kuss, wie der eines Bruders, für den ich mich verantwortlich fühlte.
Von ihm am Arm gepackt wunderte ich mich über seine heute ungewöhnlich zielstrebige Art. Ich wusste auch nicht, warum er so viel Wert darauf legte, gerade jetzt und ganz pünktlich, von unserem Treffpunkt aus loszulaufen, ohne vorher wenigstens das Kinoprogramm der Lichtburg anzusehen. Morgen: Die Nordsee von oben , mit einem Meet&Greet der Filmemacher vor Ort. Aber Jens wollte nicht. Ich nahm es hin. Wenn man so jemanden kennt, wundert einen irgendwann nichts mehr. Und mich nannten die Leute komisch !
Er schob mich die Fußgängerzone auf der Kettwiger entlang in Richtung Hauptbahnhof, mitten durch das Gewühl der Kaufsüchtigen.
»Aber Jens,
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