Nur Der Tod Kann Dich Retten
Beine in Jeans faul von sich gestreckt. Bleistiftspitzen tippten abwesend die sich überlappenden Rhythmen nicht zu erkennender Melodien mit. Offensichtlich wünschten sich alle einschließlich Sandy Crosbie, irgendwo anders zu sein.
Und warum auch nicht? Welcher halbwegs normale Mensch wollte in einem stickigen Container hocken, wenn man stattdessen draußen in der Sonne herumtollen könnte? (Würde irgendeiner ihrer Schüler überhaupt wissen, was »herumtollen« bedeutete? Und fehlten die beiden angeblich verliebten Peter Arlington und Liana Martin vielleicht, um genau das zu tun?) Sandy ließ den Blick über die fünf Reihen widerwilliger Schüler hinweg zu der breiten Fensterfront des Containers schweifen. Es war ein wunderschöner Apriltag, wenngleich viel kühler als in dieser Jahreszeit üblich. Zumindest erklärten ihr das alle ständig. »Da hätten Sie im letzten April hier sein müssen«, sagten sie immer wieder. »Im Moment ist es zehn
Grad kälter als sonst.« Aber Sandy hatte nichts gegen die kühlen Temperaturen, sie waren ihr eigentlich sogar lieber. Die Kühle erinnerte sie an Rochester im Staat New York, wo sie geboren und aufgewachsen war. Jeder – vor allem Ian – hatte ständig über den brutalen Winter geklagt, aber Sandy war eines der raren Geschöpfe, das den Schnee und die oft eisigen Temperaturen tatsächlich genoss. Sie mochte es, sich einzumummeln. Dann fühlte sie sich sicher.
Was zum Teufel machte sie in Torrance, wo die Durchschnittstemperatur feuchtheiße 29,5 Grad betrug?
Der Umzug im vergangenen Sommer war Ians Idee gewesen. Zwei Jahre lang hatte er dafür geworben, aus der Großstadt im Norden in die Kleinstadt im Süden zu ziehen. »Es ist bestimmt gut für meine Praxis, für unsere Kinder und für unsere Ehe«, hatte er versprochen, gebettelt und zuletzt gedrängelt. »Ich habe mich erkundigt, du findest problemlos eine Anstellung als Lehrerin. Los, komm. Wo bleibt deine Abenteuerlust? Wir können es doch wenigstens probieren. Maximal zwei Jahre. Ich schwöre, wenn du nicht glücklich bist, bleiben wir nicht.«
Das hatte er zumindest gesagt. Was er meinte, war: Ich habe mich Hals über Kopf in eine Frau verliebt, die ich in einem Internet-Chat kennen gelernt habe, deshalb bin ich wild entschlossen, meine Praxis zu verkaufen, dich und die Kinder zu entwurzeln und nach Florida in diese kleine Stadt zu ziehen, um die Affäre persönlich fortzusetzen. Wenn es nicht klappt, können wir wieder gehen.
Und er war gegangen. Auf den Tag genau vor sieben Wochen, wie Sandy stumm nachrechnete, während sie den Blick auf das Plakat einer Alphabetisierungskampagne an der Rückwand des Klassenzimmers richtete, um nicht in Tränen auszubrechen. Auch wenn sie bezweifelte, dass dies seine erste Affäre war -Verdacht hatte sie im Laufe der Jahre mehrfach geschöpft -, kam die Nachricht, dass er sie verlassen wollte, trotzdem völlig überraschend. Sie hatte sogar vermutet, dass
er so dringend aus Rochester fortwollte, um einer schal gewordenen Romanze zu entkommen. Der Gedanke, dass er sich hier in eine neue stürzen wollte, war ihr indes nie gekommen.
Deshalb hatte sie schockiert und schweigend zugesehen, wie er seinen alten Koffer und die neue Arzttasche gepackt hatte, die sie ihm zur Eröffnung seiner hiesigen Praxis geschenkt hatte, und in ein geräumiges Ein-Zimmer-Apartment auf der anderen Seite der Stadt gezogen war. Zufälligerweise lag es gleich um die Ecke von Kerri Franklin – ihres Zeichens Barbie-Klon und Internet-Geliebte par excellence. Das Einzige, was ihn davon abgehalten hatte, direkt bei der geschiedenen Blondine mit den üppigen Lippen und der noch üppigeren Frisur einzuziehen, war die Tatsache, dass ihre Mutter ihm zuvorgekommen war und es sich nach dem Scheitern von Kerris dritter Ehe bei ihrer Tochter bequem gemacht hatte, ohne die geringste Neigung zu zeigen, wieder auszuziehen. Da der hiesige Klatsch wissen wollte, dass die jüngste – und, wie einige meinten, höchst besorgniserregende – Vergrößerung von Kerris Busen mit Rose Cruikshanks Geld bezahlt worden war, zögerte Kerri natürlich, ihre Mutter an die frische Luft zu setzen. Zumal es in diesem Jahr zehn Grad frischer war als sonst im April.
Außerdem war da noch Kerris Tochter Delilah. Sandy warf einen Blick zu dem ersten Platz in der dritten Reihe, wo das Mädchen mit dem unglücklich gewählten Namen nervös an seinem schwarzen Kugelschreiber kaute und zu Boden starrte, offensichtlich in der
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