Nur Ein Toter Mehr
zugesperrt.
Zwanzig Minuten später stehe ich vor meiner Buchhandlung und wühle in meinen Taschen nach dem Schlüssel. Als meine Finger nichts finden, greifen sie instinktiv nach der Klinke, drücken sie herunter – und begleitet vom Ding-Dong des Glöckchens öffnet sich die Glastür. Unter Koldobikes inquisitorischen Blicken gehe ich stumm nach hinten, wo ich mich an meinen kleinen Tisch setze und den Stapel Rechnungen zu sortieren beginne. Warum ist sie nicht essen gegangen?
»Ich habe eben noch am Telefon einen Navarro Villoslada verkauft«, höre ich ihre Stimme näher kommen. »Was ist mit dir los?«
»Machst du heute keinen Mittag?«, grummele ich, ohne aufzusehen.
»Wusste ich’s doch!« Sie hat sich direkt vor mir aufgebaut. »Du hast irgendwas.«
»Woher willst du das schon wieder wissen?«
»Für so was habe ich einen Riecher.«
Hoppla, meine Angestellte ist wirklich nicht auf den Mundgefallen. Warum habe ich bisher eigentlich nie auf ihre Ausdrucksweise geachtet? Klingt gar nicht mal so schlecht, was sie da von sich gibt.
»Wenn du es wirklich wüsstest, würdest du dich auf der Stelle in mich verlieben«, erwidere ich forsch und hebe den Kopf. Koldobike, die gerade in ihre rote Jacke schlüpfen will, hält mitten in der Bewegung inne. Ich genieße die verstreichenden Sekunden, ihren verdutzten Blick: Der jungen Frau hat es doch tatsächlich die Sprache verschlagen. Was wirklich äußerst selten vorkommt, wie ich in den letzten sechs Jahren feststellen musste.
Die Leute kaufen nicht sonderlich viele Bücher in Getxo; auf ihrer Werteskala belegen sie in etwa den Platz von Speckgrieben. Aber sie kaufen hier auch kaum Schuhe, Hemden oder Hosen. Sie gehen viel lieber im quirligen Bilbao einkaufen, das, obwohl dreizehn Kilometer entfernt, nach wie vor die baskische Handelsmetropole ist und unzählige Geschäfte hat, die alles bieten, was man zum Leben und zum Glücklichsein braucht. Gelesen wird in Getxo also kaum, und geschrieben noch viel weniger: Hier wohnt nur der ein oder andere Gelehrte, der gewichtige Werke über alte Burgen und Wehrtürme, Grabstelen oder die blutrünstigen Geschlechter der Jaunsolos oder Garzeas verfasst, und für solche Themen, so eng sie auch mit der Heimat verbunden sind, sind meine arbeitsamen Mitbürger nicht zu begeistern. Und an der Jesuitenuniversität, die die Sprösslinge einflussreicher Familien auf ihre künftigen Führungspositionen in Industrie und Handel vorbereitet, herrscht auch nicht gerade ein literaturfreudiges Klima.
Dennoch habe ich 1939 mitten in Getxo eine Buchhandlung eröffnet. Zu verdanken habe ich das meinem Onkel Anselmo, dem Bruder meiner Mutter. Vor gut zehn Jahrenmusste er die Mieter einer Wohnung, die er in Las Arenas besitzt, auf die Straße setzen. Sie hatten zwei Jahre lang die Miete nicht gezahlt, weshalb mein Onkel als Entschädigung ihre Möbel einbehielt, darunter vier schwere Truhen. Jeder, der in den folgenden Wochen deren Deckel anhob, weil er sich für das eine oder andere Möbelstück interessierte, schloss ihn allerdings gleich wieder und wandte sich den anderen Objekten zu. Kein Mensch wollte sie haben, und so bat Anselmo seine Schwester, sie bei uns auf dem Dachboden unterstellen zu dürfen. Meiner Mutter war es egal, was man ihr ins Haus trug – im Gegensatz zu mir, der ich damals gerade fünfzehn geworden war. Eines Tages schlich ich deshalb unbemerkt auf den Speicher hinauf, entriegelte das erste Schloss, hob den Deckel – und der Himmel tat sich mir auf: Bücher, nichts als Bücher lagen darin! In allen vier Truhen!
Meine Liebe zur Literatur war in der Schule geweckt worden. Don Manuel hatte uns nicht nur Blumen und Bäume bestimmen lassen und uns von Tieren und dem Leben berühmter Leute erzählt, sondern uns auch den ›Don Quijote‹ und ›Die Abenteuer des Odysseus‹ in Kinderausgaben zu lesen gegeben, und als ich mit vierzehn aus der Schule entlassen wurde, sagte er noch zu mir: »Vergiss nie deine Begeisterung für die Bücher.« In den vier Truhen hatte ich nun alle vor mir, die auf der Welt je geschrieben worden waren, zumindest glaubte ich das. Heimlich und bei Kerzenschein verschlang ich in den folgenden Monaten und Jahren ›Die Schatzinsel‹, ›Meuterei auf der Bounty‹, ›Onkel Toms Hütte‹, sämtliche Romane von Dickens sowie die Krimis von Rex Scout, Stanley Gardner und Ellery Queen, die ich sofort weglegte, als ich die Großmeister des Genres, Hammett und Chandler, entdeckte, mit solchen
Weitere Kostenlose Bücher