Nur Engel fliegen hoeher
DDR-Bürger haben ungehinderten Zutritt zur Bibliothek der Mission, um dort Bücher zu lesen. Viele Besucher der Bibliothek sind Ausreiseantragsteller, die sich für Stunden dort einnisten, um so zu demonstrieren, dass sie nicht davor zurückschrecken, eine westliche Botschaft zu betreten.
Doch an diesem Tag ist alles anders. Vor dem Eingang zu der Botschaft stehen mehrere Volkspolizisten in Zweiergruppen. Jonas geht direkt auf den Eingang zu. Zwei Polizisten stellen sich ihm in den Weg. Er versucht auszuweichen. Zwei weitere Vopos treten neben ihn.
»Guten Tag. Eine routinemäßige Ausweiskontrolle. Ihren Personalausweis bitte.«
Jonas will ausweichen, sieht sich jetzt aber von sechs Vopos umringt.
»Haben Sie nicht verstanden? Ausweiskontrolle!«
Jonas besitzt keinen Personalausweis mehr, sondern nur noch eine PM12, auf der eingetragen ist, dass er den Stadt- und Landkreis Rostock nicht verlassen darf. Er zückt seine Brieftasche und zeigt seinen Presseausweis der Redaktion »Der Demokrat« in Rostock.
»Tut mir leid, meinen Personalausweis habe ich gerade nicht dabei.«
Einer der Volkspolizisten nimmt den Presseausweis, dreht ihn mehrmals hin und her und sagt dann laut und langsam: »Sie also sind Johannes Maler.«
»Ja.«
»Wohnhaft in Langenhagen bei Rostock.«
»Ja.«
»Redakteur bei der Tageszeitung >Der Demokra »Ja.«
»Wohnanschrift...«
»Ja.«
»Werden Sie nicht vorlaut, wenn ich die Wohnanschrift noch gar nicht verlesen habe.«
»Kommen Sie sich nicht lächerlich vor mit Ihrem Kassettenrecorder unter Ihrer Uniformjacke?«
»Wenn Sie hier frech werden, junger Mann, können wir Sie auch vorläufig festnehmen.«
»Ich möchte die Bibliothek der US-Botschaft aufsuchen. Sie haben kein Recht, mich daran zu hindern.«
»Wenn Sie irgendwelche Probleme haben, wenden Sie sich bitte an die dafür zuständigen staatlichen Organe der DDR an Ihrem Wohnort. Nur diese können Ihre Probleme lösen und nicht eine ausländische Vertretung.«
»Ich möchte jetzt gern in die Bibliothek der US-Botschaft.«
»Wir teilen Ihnen hiermit offiziell mit, dass die Bibliothek der US-Botschaft für DDR-Bürger geschlossen ist, weil dies seitens der USA nicht mehr erwünscht ist. Bitte verlassen Sie den Sicherheitsbereich der Botschaft.«
Der Polizist mit dem Tonband unter der Uniformjacke gibt ihm den Presseausweis zurück. Jonas atmet tief durch und geht.
Im Büro von Marc Davis stehen ein Dutzend Monitore. Per Videoüberwachung kann er alle relevanten Bereiche der Botschaft einsehen, insbesondere die Eingänge und das Foyer, über das die Besucher die Mission betreten. Er verlässt seinen Arbeitsraum und geht in das Foyer, wo an zentraler Stelle eine Induktionsschleife und ein digitales Röntgengerät stehen, wie man sie von Flughäfen kennt. Jeder Besucher muss sich hier einer Kontrolle unterziehen.
»Irgendetwas Besonderes heute?«, fragt er den uniformierten Wachoffizier.
»Tote Hose. Die Vopos lassen keine Ostdeutschen mehr rein.«
Davis geht aus dem Foyer die seitliche Treppe hinauf, die zur Bibliothek führt. Der Leseraum ist leer. Hinten sitzt Bianca an einem langen Schreibtisch und liest Zeitung. Sie wirft ihm einen Handkuss zu.
»Würdest du mir bitte einmal den dicken Umschlag zeigen, den du heute bei dir hattest?«
»Seit wann kontrollierst du mich, Darling?«
»Es ist mein Job. Ich will ihn nur einmal durchleuchten. Man kann eine Bombe auch in einem Briefumschlag verstecken.«
»Ich hab ihn nicht mehr. Er ist schon draußen.«
»Aber heute sind keine Besucher zu dir gekommen. Du musst ihn noch haben.«
Bianca stutzt einen Moment, ehe sie sagt: »Du wirst langsam komisch. Der lote Briefkasten in der Bibliothek ist ein von dir persönlich akzeptierter Weg, um Nachrichten an Ostdeutsche zu übermitteln.«
»Nachrichten ja. Aber in so einem dicken Kuvert steckt mehr. Ich möchte wissen, was da drin ist.«
»Ich habe ihn vorhin unserem Boten mitgegeben. Er hat eine Briefmarke draufgeklebt und ihn draußen in einen Postkasten gesteckt. Tut mir leid. Der ist schon unterwegs zum Empfänger. Kannst deinen Bombenalarm abblasen.«
»Okay, dann ist ja alles in Ordnung.«
Davis ist schon im Gehen begriffen, da dreht er sich noch einmal um: »Bevor ich es vergesse, du musst heute mit der S-Bahn zurückfahren. Ich habe länger zu tun.«
Er geht zurück in sein Büro und sieht auf den zwei Monitoren, welche die Straße überwachen, noch immer das Aufgebot an Volkspolizisten. Der Blick ins Foyer
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