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Prophetengift: Roman

Prophetengift: Roman

Titel: Prophetengift: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Nolan
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Auszug aus Das Buch vom Holozän
    Der Schrei des Neugeborenen, noch verstärkt vom Höhleneingang wie durch ein Megaphon, war so laut, dass ein Rudel Wölfe oben auf dem Berggipfel die Köpfe hob und lauschte. Sie waren an die Geräusche gewöhnt, die Menschen machten, aber dieser Schrei war anders. Während Schneeflocken sich auf den Rücken der Wölfe sammelten, starrten viele gelbe Augenpaare durch die Dunkelheit dorthin, wo er seinen Ursprung hatte. Würde er erneut ertönen? Endlich legten sich die gesträubten Rückenhaare des Leitwolfs, er senkte den Kopf und das Rudel setzte seinen lautlosen Weg über die mondbeschienenen Schneeverwehungen fort.
    Es war eine schwierige Geburt gewesen und die anderen Frauen kümmerten sich um die Mutter des Jungen. Auf dem Gesicht der ältesten, das vom Zahn der Zeit gezeichnet war, zeigte sich weder Sorge noch Erleichterung, als sie ihre Mittel vorbereitete. Sie hatte schon Müttern bei noch schwereren Geburten beigestanden, die danach erneut Leben geschenkt hatten, und sie hatte miterlebt, wie andere verbluteten und ihre Kinder mutterlos zurückließen. Milchlos. Verflucht. Die alte Frau betupfte das Gesicht der jungen Mutter, die leise wimmerte, zu schwach für laute Schreie, die von ihren Schmerzen gezeugt hätten, mit Wasser.
    Draußen standen die Männer im Kreis unter dem funkelnden Sternenzelt. Die meisten warteten darauf, dass der Himmel heller wurde, damit sie wieder auf die Jagd gehen konnten; die
jüngeren Männer warteten darauf, dass ihre Frauen in ihr Bett zurückkehrten, und ein einzelner Jäger wartete darauf, dass die Geburt vorüber war, damit er seinen Sohn sehen konnte. Endlich winkte man ihn herein.
    Mit Erleichterung sah er, dass seine Frau aufrecht saß. Er lächelte, zeigte ihr seinen Stolz und seine Freude. Aber im Gegensatz zu ihm zeigte sie keinen freudigen Ausdruck. Stattdessen hielt sie das sich windende Kind eng an ihre Brust gedrückt und verdeckte so sein Köpfchen.
    Und als der Mann näher trat, zog Furcht über ihr Gesicht. Er schaute die anderen Frauen an und sie wandten den Blick ab. Was stimmte hier nicht?
    Er hockte sich hin, um den Säugling anzusehen, doch die Mutter hielt ihn nur noch enger an sich gedrückt. Der Jäger wurde energisch und sie begann zu jammern. Als er das Gesicht des Neugeborenen enthüllt hatte, fuhr er verdutzt zurück. Irgendetwas stimmt nicht mit meinem Kind!, dachte er. Er sah genauer hin.
    Die Haut des Säuglings war rot und glatt und die Augen – die Augen waren auch verkehrt, sie standen zu weit auseinander, und die Stirn war zu flach und zu hoch. Und die Nase war kaum als Nase zu bezeichnen. Aber das Merkwürdigste war die Form des Kopfes. Konnte es sein, dass die Geburt deshalb so schwer gewesen war? Der Kopf war zu groß und die Gliedmaßen des Kindes waren ungewöhnlich dünn. Das würde nie ein starker Krieger oder Jäger werden!
    Er versuchte ihr den Wechselbalg zu entreißen, aber sie drehte sich zur Höhlenwand um, setzte ihren Rücken als Schild ein. Die alte Hebamme schob sich zwischen ihn und die Frau. Trotz ihrer eigenen Befürchtungen legte sie ihm die Hand auf die Schulter und lächelte. Er trat zurück und wandte sich ab, um die Höhle zu verlassen. Der Säugling brüllte.
    Er hat einen starken Willen, dachte der Mann, als er den Schrei seines Sohnes hörte. Vielleicht wird er mir ja ähnlicher sehen, wenn er
gröβer ist. Es ist noch zu früh. Und er begann zu hoffen. Aber der Mann besaß nicht das Gehör eines Wolfs, sonst hätte er den Unterschied bemerkt.
    Jahre vergingen und der Junge näherte sich dem Mannesalter. Er war zurückhaltend. Neugierig. Reserviert. Schnell im Denken und in den Bewegungen. Aber er war nie Teil des Stammes; er schien immer der Fremde zu bleiben, der Außenseiter, aber gleichzeitig ein Anführer unter den gleichaltrigen Jungen. Er schien aus dem gemacht zu sein, aus dem sie alle gemacht waren, und doch besaß er irgendeine unbekannte Eigenart. Die anderen misstrauten ihm und flüsterten hinter seinem Rücken.
    Es gab einen Jagdunfall, bei dem sein Vater zu Tode kam. Und ohne seinen Vater wurde der Junge gemieden. Der junge Mann packte seine Siebensachen zusammen und verließ seine Mutter, verließ seine wenigen Freunde. Dann endlich fand er das Glück mit einer Frau, die so war wie er. Sie fanden einander, als hätten die Götter ihre Verbindung arrangiert. Auch sie war von den anderen gemieden worden. Aber sie bekamen ein Kind zusammen, ein Mädchen, und danach

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