Nur Engel fliegen hoeher
Fensterlaibung die schmale Öffnung. Sie hat die Form einer Schießscharte und ist gerade groß genug, dass ein Mensch sich hineinzwängen kann.
Die Öffnung führt ins Innere der Kirchenwand. Jonas tastet sich voran ins Dunkel, Julia an der Hand. Eng aneinandergepresst stehen sie in dem schmalen Geheimgang. Es ist absolut nichts zu sehen. Doch in der tausend Jahre alten Backsteinwand des Kirchenschiffs führt eine schmale, niedrige Wendeltreppe nach oben.
Jonas steigt voran. Julia hält sich an seinem Hosenbein fest und folgt ihm. Die Treppe scheint kein Ende zu nehmen und nach oben hin immer enger zu werden. Dann sehen sie über sich funkelnde Sterne. Sie wischen sich die Spinnweben aus dem Gesicht, klettern vorsichtig hinaus ins Freie und stehen in dreizehn Metern Höhe auf der frei in den Himmel ragenden Wand des Kirchenschiffs. Hier oben ist die Mauer immer noch mehr als einen Meter breit.
»Wenn wir hier runterpurzeln, sind wir beide mausetot«, sagt Julia und klammert sich an Jonas.
»Setz dich hin, dann fühlst du dich sicherer.« Jonas breitet seine Jacke hinter ihr auf dem Mauergesims aus. Ganz langsam, sich dabei an Jonas festhaltend, gleitet sie nach unten und nimmt im Schneidersitz vor ihm Platz. Mit den Händen stützt sie sich an den Kanten der gotischen Mauer ab.
»Das ist ja eine spannende Entführung«, sagt sie und lächelt ihn an.
»Ich hätte nie geglaubt, dass du mit mir hier hochkletterst.«
»Und wie viele Frauen hast du hier oben schon verführt?«
»Jeden Tag eine andere Amerikanerin.«
»Gib nicht so an. Vor wenigen Minuten hast du zum ersten Mal eine geküsst.«
»So fängt das immer an, und am Ende schubse ich sie von der Mauer.«
»Dann musst du ja viele Leichen im Keller haben.« Sie sieht vorsichtig nach unten. »Ich habe Angst.«
»Ich bin bei dir und passe auf.« Jonas kniet sich vor Julia, umfasst ihren Hals und küsst sie. Julia lässt sich auf die Mauer sinken, greift dabei Hilfe suchend ins Leere. Doch es gibt keinen Halt. Sie streckt sich rücklings aus und krallt sich mit einer Hand in den alten Backstein. Mit der anderen greift sie in Jonas' Haar. Jonas findet den Reißverschluss ihrer Jeans.
»Nein! Nein! Bitte nicht«, fleht sie. »Wir küssen uns am Rande des Abgrunds. Ich will nicht, dass wir abstürzen.«
Doch er hat ihre Hose schon geöffnet und versucht, sie auszuziehen. Julia hebt leicht ihren Körper, damit er ihr die eng sitzende Jeans samt Slip abstreifen kann.
»Bitte nicht,« flüstert sie in sein Ohr. Sie spürt die winterliche Eiseskälte an ihrer nackten Haut, den schmelzenden Schnee auf ihren Oberschenkeln. Zugleich fühlt sie ein Kribbeln in ihrem Körper und schließt die Augen. Dann spürt sie, wie Jonas warm in sie eindringt. Sie rafft mit beiden Händen Schnee zusammen, wirft ihn wütend auf Jonas. Schließlich schiebt sie ihre frierenden Hände unter seinen Pullover. Sie winkelt ihre Beine an. Plötzlich fühlt sie sich gut und warm und beschützt. Sie presst ihren Mund auf seinen und genießt den Augenblick.
Eine kurze, heftige Wolke aus Schneegestöber fegt über sie hinweg.
Julia öffnet die Augen. »Sind wir schon im Himmel?«
»Ich bin noch nie so hoch geflogen.«
Julia strahlt ihn an und flüstert: »Nur Engel fliegen höher.«
Kapitel 2
»Guten Tag, Frau ...«
»Christin. Christin ist mein Name«, antwortet die junge Frau und zeigt ihren Besucherausweis für die Akteneinsicht bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR.
Eine kleine, zierliche Frau, etwa fünfzig Jahre alt, im dunkelgrauen Kostüm, hat die Aufsicht im Lesesaal und mustert die Besucherin. Christin ist gut einen Kopf größer als sie, trägt eine Jeans mit horizontalen Rissen, dazu ein knappes Top in den Farben der US-Flagge, das von Spaghettiträgern gehalten wird und ein großzügiges Dekolleté freigibt. Im Bauchnabel glitzert ein Piercing.
»Bitte tragen Sie sich mit vollem Namen und Ihrer Anschrift in die Liste der Besucher ein.« Die Aufsicht führende Mitarbeiterin im Lesesaal trägt ein Namensschildchen mit der Aufschrift: Frau Tulpenmüller; Bereich Akteneinsicht.
Christin sieht sich verunsichert um und versucht, sich ein Bild von dem Raum zu machen. Der Lesesaal der BStU liegt in der oberen Etage eines Plattenbaues aus DDR-Zeiten und hat die Größe eines Klassenzimmers. In zwei Reihen stehen je acht Tische mit je zwei Stühlen hintereinander. Aus den Fenstern hat man einen weiten Blick über
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