Nur wenn du mich hältst (German Edition)
Sohlen schlich er durch die Wohnung und öffnete den Brustbeutel, in dem sich AJs Papiere befanden. Er betrachtete die Geburtsurkunde. Kein Wunder, dass der Junge lieber AJ gerufen als mit seinem richtigen Namen angesprochen wurde. Geburtsort: Laredo, Webb County, Texas. Er starrte auf das Datum, konnte sich jedoch beim besten Willen nicht daran erinnern, was er an diesem Tag vor mehr als zwölf Jahren gemacht hatte.
Nach Yolanda war er mit jedem Mädchen ausgegangen, das Ja gesagt hatte. Er wollte sehen, ob sie recht hatte – ob er speziell in sie verliebt war oder in die Liebe an sich. Wie sich herausstellte, hatte sie weder recht noch unrecht. Er liebte jede Frau, mit der er zusammen war, doch in dem Moment, als Yolanda sich bei ihm meldete, war er bereit, alles stehen und liegen zu lassen und zu ihr zu eilen. Das wollte sie allerdings nicht. „Ich rufe dich nur an, um dir zu sagen, dass ich gestern Nacht einen Jungen zur Welt gebracht habe. AJ. AJ Martinez“, sagte sie.
„Kann ich ihn besuchen kommen?“
„Das ist keine gute Idee.“
„Zum Teufel, Yolanda, warum rufst du mich dann überhaupt an?“
„Ich dachte, es interessiert dich.“
„Mich interessiert, weshalb du mich hast hängen lassen, als ich sagte, dass ich mit dir zusammen sein will. Mich interessiert, wieso ich kein Teil von all dem sein darf.“
„Weil wir jetzt in Laredo wohnen. Meine Tante hat ein Brautmodengeschäft …“
Er erzählte ihr von dem Konto, das er für das Baby eröffnet hatte. Coach Holmes hatte ihm dabei geholfen und ihm erklärt, wie das funktionierte. Ein Mitarbeiter der Bank hatte ein Treuhandkonto eingerichtet, auf das nur der gesetzliche Vertreter des Jungen Zugriff hatte. Es war nicht viel, weil er nicht viel verdiente, doch er nahm jeden Job an, den er kriegen konnte, und versprach, immer etwas auf das Konto zu überweisen.
„Warum tust du das?“, fragte Yolanda nach einer langen Pause.
„Weil du mich nichts anderes tun lässt“, erwiderte er.
Bo versuchte, sie nicht dafür zu hassen, dass sie ihm AJ vorenthalten und sie erst zusammengeführt hatte, als die Katastrophe hereingebrochen war. Tatsache war, selbst wenn sie ihn eingeladen hätte, Teil von AJs Leben zu sein, hätte er vermutlich eine gewisse Distanz gewahrt. Die freiwilligen Unterhaltszahlungen waren in seinen Augen eine Art Buße. Er hatte schließlich dazu beigetragen, ein Kind in diese Welt zu setzen.
Leise trat er ans Sofa und sah nach AJ. Der Junge schlief immer noch. Alle Anspannung und Aufregung und Wut war aus seinem Gesicht getilgt. Trotz seiner Schmächtigkeit war er ein hübsches Kind. Vermutlich kam er nach seiner Mutter. Bo erinnerte sich an ihr anziehendes Lächeln und ihre dichten Wimpern, die großen Rehaugen, die nur für ihn zu funkeln schienen. Er wusste nicht, wie AJs Lächeln aussah. Der Junge wirkte, als würde er nie wieder lächeln, was er ihm nicht vorwerfen konnte.
Das schlafende Menschlein verbarg Geheimnisse, von denen er nicht einmal eine Ahnung hatte. Da war diese winzige weiße Narbe am Mund. Ein Pflaster um seinen rechten Daumen. War AJ Rechtshänder oder Linkshänder wie er?
Sein Sohn war nur vorübergehend bei ihm, aber er wollte sicherstellen, dass sie beide einander in der Zeit kennenlernten, und wenn es das Einzige war, was er für den Jungen tun konnte.
Bo duschte schnell und zog sich dem Wetter entsprechend an – lange Unterhose unter der Jeans und dicke Socken. Als er sich das Unterhemd überstreifte, spürte er, dass ihn jemand beobachtete. „Hey, AJ“, sagte er.
Der Junge saß aufrecht auf dem Sofa. Umgeben von zerwühlten Decken blinzelte er im Licht des frühen Morgens. Er erinnerte ihn an ein frisch geschlüpftes Küken, desorientiert und auf der Suche nach etwas, das ihm die richtige Richtung weisen könnte. Sein dunkles Haar war zerzaust, sein Gesicht ein wenig verquollen. Er wirkte bedrückt, als hätte ihn gerade jemand angeschrien. Verdammt, vielleicht wurde er das zu Hause wirklich. Womöglich sogar noch Schlimmeres. Der Gedanke, dass irgendjemand sein Kind schlagen könnte, machte ihn wütend, doch er erkannte, dass dieser Beschützerinstinkt ungefähr zwölf Jahre zu spät kam.
„Können wir Mom anrufen?“, fragte AJ.
„Sicher.“ Bo wählte ihre Nummer in Houston, wie er es am Tag zuvor schon ein paar Mal getan hatte. Er bezweifelte allerdings, dass sich etwas geändert hatte. „Es geht keiner ran“, sagte er, als er direkt zum Anrufbeantworter weitergeschaltet
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