Odice
Donnergrollen.
Ohne sich unter der Last ihres Körpers auch nur eine Spur von Anstrengung anmerken zu lassen, trug Julien sie die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Odice schmiegte ihren Kopf an seine harte Brust, während er sie an seinem eigenen Zimmer vorbei den langen Korridor entlang trug und schließlich vor dem Turmzimmer dieser Etage stehenblieb.
Julien schloss die Tür auf, die beim Öffnen leicht knarzte. Es hatte den Anschein, als sei dieser Raum schon lange von niemandem mehr betreten worden. Odice musste einige Male blinzeln, um die Tränen aus ihren Augen zu vertreiben und etwas klarer zu sehen. Sie befanden sich in dem heimeligsten Zimmer, das sie jemals gesehen hatte. In dunkel vertäfelten Wandnischen standen Unmengen von Büchern und davor Bilder in silbernen Rahmen, kleine Kostbarkeiten aus fremden Ländern und schillernde Vasen von Gallé. Am offenen Kamin stand ein mit englischem Rosendekor bezogener Ohrensessel mit einem bestickten Kissen darin und einem samtgepolsterten Fußschemel davor. Das edelhölzerne Bett mit seinem geblümten Baldachin und den weichen Kissen war wie geschaffen, um sich vor der Welt zu verkriechen. Es schien keinen unschuldigeren Ort zu geben als diesen.
Julien ließ sich mit Odice in seinen Armen auf der Bettkante nieder und jetzt hielt er sie zärtlich wie ein kleines Kind.
»Das hier war früher das Zimmer unserer Mutter. Ich suche es nicht oft auf, aber ab und zu ziehe ich mich hierher zurück, blättere in ihren Büchern, lese in ihren Aufzeichnungen. Es ist ein Ort der Ruhe und der Geborgenheit«, erklärte er sanft, um sie von dem abzulenken, was ihr soeben widerfahren war.
Er strich durch ihr tränenfeuchtes Haar und wiegte sie sanft, bis sie ganz ruhig wurde. Sie fühlte sich so geborgen in seinen Armen und sie wünschte sich, er würde niemals aufhören, sie so zu halten.
»Es tut mir so entsetzlich leid, was eben geschehen ist«, sagte er leise. »Und es gibt keine Rechtfertigung und keine Entschuldigung dafür.«
»Nein, die gibt es nicht, Julien.«
»Ich weiß nicht, was in Eric gefahren ist, aber was er getan hat ist schändlich, unehrenhaft und absolut unverzeihlich. Ich verspreche dir, dass dich nie wieder jemand gegen deinen Willen anrühren wird, Odice.«
Es klang wie ein feierliches Gelöbnis und wie ein Schwur, den zu verteidigen er jederzeit bereit sein würde.
»Das klingt schön.«
Sie legte ihre Hand auf Juliens Wange, streichelte seine Schläfe und ließ ihren Daumen über seinen wunderbar ausgeprägten Wangenknochen gleiten.
»Aber dafür werde ich von jetzt an selbst sorgen, Julien. Ich werde noch heute abreisen.«
Julien zog ihre Hand an seine Lippen als er langsam nickte.
»Ja, das solltest du tun. Ich verstehe dich und respektiere deine Entscheidung, obwohl sie mir sehr wehtut. Aber bitte gestatte mir noch eine einzige Frage: Warum bist du hergekommen, Odice? Was zum Teufel hat dich dazu bewogen, an diesen verfluchten Ort zu kommen?«
Obwohl er sie das nun schon zum zweiten Mal fragte, war Odice auf diese Frage auch dieses Mal nicht vorbereitet.
Er beobachtete sie aufmerksam, doch sie wandte den Blick ab. Sie wirkte verunsichert, irgendwie hilflos. Er widerstand dem Drang, sie erneut in seine Arme zu schließen und ihr dafür zu danken, dass sie gekommen war. Pathetisches waberte durch seinen Kopf. Diesem wundervollen, ebenso zarten wie sinnlichen Geschöpf seine tiefe Dankbarkeit zu zollen, dafür, dass sie den Weg in sein dunkles Reich gefunden hatte, zu ihm in die Unterwelt hinabgestiegen war, den unzähligen Gefahren getrotzt hatte, um ihn ans Licht zu holen.
»Ich wollte mich kennenlernen«, sagte sie schlicht. »Und ich wollte dich kennenlernen. Den Mann, der mit seinen Fotografien in die Seelen der Menschen blickt und aus Sklavinnen Göttinnen macht.«
Julien küsste behutsam ihre Fingerspitzen, ehe er ihre Hand aus seinem sanften Griff entließ.
»Meine Schöne, lass mich dich genau ansehen und dich immer so in Erinnerung behalten.«
Odice erhob sich und lächelte ihn an.
»Fast bin ich Eric dankbar dafür. Ich denke, das war die lehrreichste und heilsamste Lektion von allen. Er hat mich mit Gewalt zum Aufwachen gezwungen, mich aus diesem dunklen Traum gerissen, in dem ich mich zu verlieren drohte. Nun bin ich wohl erwacht – für lange .«
»Schnitzler«, sagte er mit tonloser Stimme.
Kapitel 15
3
Odice saß am wohl letzten schönen Septembertag dieses Jahres vor der Tür des Café de Flore, dem berühmten
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