Öland
und
Julia verstand fast nie ein Wort, lauschte aber sehr konzentriert. Ein einziges Mal hatte sie eine Frauenstimme klar und
deutlich sagen hören: »Ja, jetzt wird es aber wirklich Zeit.«
Sie stand am Fenster und sah auf die Straße. Draußen war
es kalt und windig. Herbstgelbes Birkenlaub löste sich vom
regennassen Asphalt und warf sich in den Wind. Entlang der
Bordsteinkante sammelte sich ein grauschwarzer Matsch aus
Laub, das von Autoreifen zerdrückt worden war und nie wieder durch die Luft fliegen würde.
Sie wünschte sich, jemand, den sie kannte, würde dort unten auftauchen. Jens könnte am Ende der Häuserreihe auftauchen. In Sakko und Krawatte wie ein richtiger Jurist. Er
würde sie im Fenster entdecken, überrascht auf dem Bürgersteig stehen bleiben, den Arm heben, winken und ihr dann
zulachen …
Plötzlich verschwand das Rauschen, und eine gehetzte
Stimme ertönte aus dem Hörer:
»Krankenkasse, Inga, hallo?«
Das war nicht ihre neue Sachbearbeiterin, denn die hieß
Magdalena. Oder Madeleine? Sie waren sich noch nie persönlich begegnet.
Sie holte tief Luft.
»Ja, hier ist Julia Davidsson, ich wollte mich erkundigen, ob
Sie eventuell …«
»Wie lautet Ihre Versichertennummer?«
»Das … Die Zahlen habe ich doch gerade ins Telefon eingetippt.«
»Die sind aber bei mir nicht aufgetaucht. Können Sie mir
bitte Ihre Nummer geben?«
Julia sagte die Zahlen auf, dann wurde es still im Hörer.
»Julia Davidsson?«, sagte die Sachbearbeiterin, als hätte sievorhin nicht hingehört, als Julia ihren Namen gesagt hatte.
»Womit kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ich möchte sie gerne verlängern.«
»Was verlängern?«
»Meine Krankschreibung.«
»Wo arbeiten Sie?«
»Im Österkrankenhaus, in der Orthopädie«, antwortete
Julia. »Ich bin Krankenschwester.«
War sie das eigentlich noch? Sie hatte so oft gefehlt in
den letzten Jahren, dass sie in der Orthopädie vermutlich
keiner vermisste. Und sie vermisste definitiv nicht die Patienten, die ununterbrochen über ihre lächerlichen, kleinen Probleme jammerten, ohne eine Ahnung von wahrem Unglück
zu haben.
»Haben Sie ein ärztliches Attest?«, fragte die Sachbearbeiterin.
»Ja.«
»Waren Sie heute beim Arzt?«
»Nein, am Mittwoch. Bei meinem Psychiater.«
»Und warum haben Sie nicht früher angerufen?«
»Na ja, mir ging es danach nicht so gut«, sagte Julia und
dachte: Vorher auch nicht.
»Sie hätten am gleichen Tag anrufen müssen …«
Julia hörte einen lauten Atemzug, vielleicht war es auch
ein Seufzer.
»Jetzt muss ich es so machen«, fuhr die Sachbearbeiterin
fort, »dass ich mir Ihre Akte hole und das direkt eintrage. Eine
Ausnahme, dieses eine Mal!«
»Das wäre sehr nett«, sagte Julia.
»Einen Augenblick, bitte …«
Julia stand noch am Fenster und sah auf die Straße hinunter. Dort regte sich nichts.
Doch, jemand näherte sich von der größeren Querstraße kommend auf dem Bürgersteig, es war ein Mann. Juliaspürte eiskalte Hände ihren Magen packen, ehe sie erkannte,
dass der Mann viel zu alt war, er war kahlköpfig, in den Fünfzigern und trug einen Overall, der mit weißer Farbe bespritzt war.
»Hallo?«
Sie sah den Mann vor einem Haus auf der anderen Straßenseite stehen bleiben, den Türcode eintippen und die Tür öffnen. Dann ging er hinein.
Es war nicht Jens, nur ein Mann mittleren Alters.
»Hallo? Julia?«
»Ja? Ich bin noch hier.«
»Ich habe jetzt das Formular in Auftrag gegeben. Es kommt
morgen, Sie müssen es dann einfach mit dem ärztlichen
Attest zurückschicken.«
»Toll. Ich …« Julia schwieg.
Sie blickte noch immer auf die Straße.
»War das alles?«
»Ich glaube …«, Julia umklammerte den Hörer. »Ich glaube,
es wird kalt morgen.«
»Ja, vielleicht«, erwiderte die Sachbearbeiterin, als sei alles
in bester Ordnung. »Haben Sie ein neues Konto, oder ist es
noch dasselbe wie früher?«
Julia antwortete nicht. Sie wollte etwas Normales, Alltägliches sagen.
»Ich spreche manchmal mit meinem Sohn«, sagte sie
schließlich.
Zunächst blieb es still in der Leitung, dann hörte man die
Stimme der Sachbearbeiterin:
»Das Formular wird wie gesagt wahrscheinlich morgen…«
Julia legte schnell auf.
Sie sah aus dem Fenster und fand, dass das Laub auf der
Straße ein Muster bildete wie eine Nachricht, deren Sinn sie
nicht verstand. Sie sehnte sich danach, dass Jens endlich aus
der Schule kam. Nein, nicht aus der
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