Öland
zog.
Was war an diesem Tag im Nebel geschehen? Was war mit
Jens geschehen?
STENVIK, JULI 1936
D er Mann, der in seinem späteren Leben so viel Kummer und
Angst auf Öland verbreiten wird, ist Mitte der Dreißigerjahre
ein zehnjähriger Junge. Er ist stolzer Besitzer eines steinigen
Strands und eines ganzen Meers.
Der Junge heißt Nils Kant, ist braun gebrannt und trägt in
der Sommerhitze eine kurze Hose. Er sitzt auf einem großen,
runden Stein unterhalb der Hütten und Bootshäuser von
Stenvik in der Sonne. Er denkt sich:
Das gehört alles mir.
Und das stimmt, denn Nils’ Familie gehört der Strand. Sie
besitzt viel Land im Norden von Öland, Familie Kant besitzt
diesen Boden schon seit Jahrhunderten, und seit Nils’ Vater
vor drei Jahren gestorben ist, hat sich Nils dafür verantwortlich gefühlt. Nils vermisst seinen Vater nicht, er erinnert
sich nur an einen großen und schweigsamen und strengen,
manchmal gewalttätigen Mann, und Nils findet es gut, dass
nur seine Mutter Vera oben im Holzhaus auf ihn wartet.
Er braucht sonst niemanden. Freunde braucht er keine, er
weiß, dass Kinder jeden Alters auf Öland leben und die älteren Jungen im Ort, die schon im Steinbruch arbeiten, aber dieses Stück vom Strand gehört nur ihm. Die Müller in der Mühle
und die Fischer in den Bootshäusern sind keine Bedrohung.
Nils rutscht vom Stein herab. Er will noch einmal schwimmen gehen, ein letztes Mal, ehe er nach Hause geht.
»Nils!«, ruft eine helle Jungenstimme.
Nils dreht sich nicht um, hört aber, wie sich Kies und kleine
Steine vom Hang lösen und nach unten rieseln, und schnelle
Schritte, die sich nähern.
»Nils! Ich habe von Mama auch Karamellbonbons bekommen! Ganz viele!«
Es ist sein Bruder. Axel ist vier Jahre jünger als Nils und immer in Bewegung. Er hält ein graues, zugeknotetes Stofftuch
in der Hand.
»Guck mal!«
Axel kommt zu ihm gelaufen, stellt sich neben den großen
Stein, sieht freudestrahlend zu Nils hoch, wickelt sein Paket
aus und breitet den Inhalt auf dem Stofftuch aus.
In dem Tuch liegen ein kleines Taschenmesser und Bonbons, dunkle, glänzende Karamellbonbons.
Nils zählt acht Stück. Er selbst hat von seiner Mutter nur
fünf bekommen, aber die sind längst aufgegessen, und sein
Herz fängt plötzlich vor Wut an, wie wild zu pochen.
Axel nimmt eines seiner Bonbons, sieht es sich genau an,
steckt es sich in den Mund und schaut auf das glitzernde Wasser. Er kaut genüsslich und langsam, als gehörten ihm nicht
nur die Bonbons, sondern auch der Strand, das Meer und der
Himmel über ihnen.
Nils sieht weg.
»Ich gehe schwimmen«, sagt er, den Blick aufs Wasser geheftet, läuft zum Ufer, zieht die kurze Hose aus und legt sie
auf einen Stein.
Er dreht Axel den Rücken zu und läuft, mit den Füßen
vorsichtig über die algenglatten Steine balancierend, in die
Wellen hinein. Kleine, braune Tangfäden legen sich um seine
Zehen. Das Wasser ist von der Sonne erwärmt worden und
spritzt schäumend zur Seite, als sich Nils etwa zehn Schritte
von der Uferkante hineinstürzt. In diesem Sommer hat er gelernt, unter Wasser zu schwimmen. Er holt tief Luft, tauchtunter, taucht bis zum Meeresboden und schießt wieder in
den Sonnenschein.
Axel hat sich ans Ufer gestellt.
Nils gleitet durchs Wasser, spritzt damit herum und
schlägt Purzelbäume. Er schwimmt ein paar Meter ins offene
Meer, bis er nicht mehr stehen kann.
Draußen im Meer gibt es einen Felsbrocken, einen Findling, der knapp unter der Wasseroberfläche liegt wie ein
schlummerndes Seeungeheuer. Nils klettert auf den Rücken
des Ungeheuers, seine Füße verschwinden unter Wasser,
dann springt er zurück ins Tiefe. Hier kann er nicht stehen.
Er lässt sich treiben, tritt mit den Füßen Wasser und sieht,
dass Axel am Ufer steht.
»Kannst du immer noch nicht schwimmen?«, ruft er.
Er weiß genau, dass Axel es nicht kann.
Axel antwortet nicht, senkt jedoch den Blick und wird rot
vor Scham und Wut. Er zieht seine kurze Hose aus und legt
sie neben das Tuch auf den Stein.
Nils schwimmt ruhig um den Springstein herum, erst auf
dem Bauch, dann auf dem Rücken, um zu zeigen, wie einfach
es ist, wenn man es kann. Er strampelt mit den Beinen und
zieht sich wieder auf den Stein hinauf.
»Ich helfe dir!«, ruft er Axel zu und überlegt tatsächlich
einen Augenblick, es zu tun; der große Bruder zu sein und
Axel an diesem Tag das Schwimmen
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