Oksa Pollock. Der Treubrüchige
Höchstgeschwindigkeit flatterte, und dem Rasando, der mit seinen langen gestreiften Beinen elegant über das niedrige Gestrüpp hinwegsprang. Als der Hase die Wanderer erreicht hatte, ließen diese ihrer Freude freien Lauf.
»Du bist es, mein lieber Beschützer!«, rief Dragomira, die in die Hocke gegangen war und das Gesicht an das herrliche graubraune Fell des Tiers schmiegte. »Ich hatte solche Angst …«
Alle wussten, dass die Baba Pollock kaum je von Abakum getrennt gewesen war. Dragomira litt darunter, wenn er nicht an ihrer Seite war, und die Innigkeit, mit der sie einander begrüßten, zeugte von ihrer engen Beziehung. Der Hase ließ sich eine Weile streicheln und verwandelte sich dann unter den erstaunten Augen der Jugendlichen, die dies noch nie mit angesehen hatten, wieder in Abakum, den Feenmann. Er schüttelte sich, brachte seine grauen Haare wieder in Ordnung und ließ dann den Blick über die kleine Gruppe schweifen, um sicherzugehen, dass alle da waren. An Oksa blieb sein Blick einen Moment lang mit einer Mischung aus Ernst und tiefer Erleichterung hängen.
»Wie gut, euch alle gesund und wohlbehalten wiederzusehen. Gott sei Dank!«
»Pavel sei Dank!«, verbesserte Pierre Bellanger mit seiner dröhnenden Stimme. »Er hat uns aus der Patsche geholfen.«
Verlegen winkte Pavel ab.
»Naftali und ich haben mitverfolgt, was in London passiert ist. Es ist furchtbar«, sagte Abakum bekümmert. »Und so wie es zurzeit regnet, wird sich die Lage kaum bessern.«
Wie um seine Prognose zu untermauern, schwirrten die zehn Hubschrauber im Tiefflug und mit einem Höllenlärm über die Hügel hinweg. Einer von ihnen positionierte sich nur wenige Meter über den Rette-sich-wer-kann, die vor Schreck zusammenzuckten. Dragomira fand gerade noch Zeit, das Wackelkrakeel und den Rasando unter ihrem Regencape zu verstecken, bevor ein Soldat den Kopf aus dem Vehikel streckte und sein Megafon an den Mund hob.
»Gibt es Verletzte unter Ihnen? Brauchen Sie Hilfe?«
Abakum gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass bei ihnen alles in Ordnung war, und der Hubschrauber gesellte sich wieder zu seiner Staffel, die Kurs Richtung Osten nahm, wo Tausende auf der Flucht vor der Flut unterwegs waren.
»Wie hast du uns gefunden?«, wollte Oksa wissen.
Abakum tippte sich schmunzelnd an die Nase.
»Leomidos Haus ist nur drei Kilometer weit weg.«
Oksa sog die Luft ein und rief:
»Also, ich rieche hier bloß Sumpf. Wie gemein!«
»Dazu braucht man eben eine feine Witterung, meine Kleine«, erklärte der Feenmann. »Aber du hast ja ein paar andere ganz nützliche Fähigkeiten, stimmt’s?«
»Was du nicht sagst! Wegen dieser verfluchten Hubschrauber, die ständig irgendwo auftauchen, kann man nicht mal eine kleine Runde vertikalieren.«
Alle schmunzelten, außer Gus. Der wandte sich so brüsk ab, dass es Oksa kränkte.
»Nun gut. Machen wir uns auf zu Naftali«, schlug Dragomira vor. »Dann sind wir endlich alle wieder vereint.«
Sie setzten sich in Bewegung, zwar immer noch mit hochgezogenen Schultern und eingezogenen Köpfen wegen des Regens, jedoch mit neuem Elan.
Vorsichtige Annäherung
V
om Knistern des Kaminfeuers eingelullt, gaben sich die Rette-sich-wer-kann ihrer Erschöpfung hin. Jeder versuchte, neue Kräfte zu sammeln und nach diesen stürmischen Stunden ein wenig zur Ruhe zu kommen. Oksa saß in einem Sessel und kämpfte gegen den Schlaf, ohne genau zu wissen, warum. Nichts wäre schöner, als jetzt einfach einzuschlummern … Sie ließ den Kopf an die weiche Lehne sinken und betrachtete die riesigen Gemälde mit moderner Kunst, die die Wände des zum Salon umgebauten ehemaligen Kirchenschiffs zierten.
Das Haus von Leomido – Dragomiras verschwundenem Bruder – war so prachtvoll, wie sie es in Erinnerung hatte, nur dass nun sein Besitzer fehlte. Oksa spürte diese schmerzliche Leere und musste tief Luft holen, um die Tränen zu unterdrücken. Bedrückt blickte sie zu Gus hinüber und hoffte, seine Aufmerksamkeit erregen zu können. Er saß nur ein paar Meter weit weg, doch sein Gesicht blieb wie versteinert. Oksa spürte eine Verzweiflung in sich aufsteigen, die ihren ganzen Körper erfasste. Sie versuchte es mal mit wütenden, dann wieder mit flehenden Blicken, hin und her gerissen zwischen ihren widerstreitenden Gefühlen. Als sie kurz davor war zu explodieren, löste sich auf einmal etwas aus ihrem Inneren, und sie fühlte sich sofort wie von einer tonnenschweren Last befreit. Verblüfft spürte
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