Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)
der Erste Diener des Pompaments, Abakum, verbürgten sich für die Treue des jungen Mannes. Doch Orthon hatte noch ein drittes Kind, das er vor siebzehn Jahren auf die hinterhältigste Art und Weise gezeugt hatte.
Tugdual war Orthons Sohn.
Wenn auch wider Willen, wie Oksas Plemplem ihnen versichert hatte. Doch das war ein schwacher Trost: Denn Tugdual hatte die Rette-sich-wer-kann verlassen, um sich seinem leiblichen Vater anzuschließen, und dabei Oksa und allen anderen Rette-sich-wer-kann großen Kummer zugefügt.
»Ah, da ist er!«, rief Zoé und zeigte auf einen großen Schatten, der eilig auf sie zukam. Da Abakum nicht vertikalieren konnte, hatte er, den Plemplem unter seinem weiten Mantel versteckt, im Laufschritt die dunklen Straßen bis zum Bigtoe Square durchquert. Nun traf er wieder mit seinen Freunden zusammen. Er musterte sie mit besorgtem Blick. Vor allem der Zustand von Oksa, deren Gesichtszüge vor Qual wie erstarrt waren, schien ihn zu bekümmern.
»Die Erklärungen und die Genesung werden zu einem späteren Zeitpunkt die Begegnung mit dem Herzen meiner Jungen Huldvollen erfahren«, flüsterte der Plemplem Oksa ins Ohr und schaute sie mit seinen großen, sanften Augen an. »Jetzt hat die Zeit des Wiedersehens mit den Abgewiesenen geschlagen, die Freude und die Erleichterung erfahren den Überfluss, gewährt Ihr die Zustimmung?«
Oksa war den Tränen nahe, nickte aber. Wieder einmal bewies ihr kleiner Haus- und Hofmeister, wie vernünftig und klug er war.
»Also los«, sagte Pavel.
Er legte seiner Tochter den Arm um die Schultern und ging mit ihr auf das Haus der Pollocks zu, das ihnen nach der monatelangen Abwesenheit fast unwirklich vorkam. Oksa erschien es kleiner als in ihrer Erinnerung, aber vielleicht lag dies auch an der erdrückenden Dunkelheit. Nur eine brennende Kerze in einem Fenster – dem von Oksas Zimmer – unterschied es von den benachbarten Häusern. So schwach und flackernd die Flamme auch sein mochte, auf die Rette-sich-wer-kann wirkte sie wie ein Leuchtturm. Und sie bestätigte ihnen, dass die Abgewiesenen Tag und Nacht auf ihre Rückkehr gewartet hatten.
Das schmiedeeiserne Gartentor war von den extremen Regengüssen der vergangenen Zeit verzogen und quietschte, als Pavel es aufschob. Ein paar Sekunden später wurde im ersten Stock ein Fenster aufgestoßen, und ein erstickter Schrei ertönte: »Das kann nicht wahr sein!«
Es dauerte nicht lange, bis hinter weiteren Fenstern Licht anging. Kurz darauf wurde innen ein Arsenal von Schlössern und Riegeln betätigt, die Haustür ging auf, und ein paar der Hausbewohner drängten sich auf der Schwelle.
Alle standen wie gebannt da, die Rette-sich-wer-kann genauso wie die Abgewiesenen. Die Außentreppe schien sich in eine unüberwindliche Grenze verwandelt zu haben, keiner wagte es, auch nur einen Schritt auf die anderen zuzugehen, aus Angst, all das könnte sich als bloßer Traum entpuppen. Dann lieber noch ein wenig glauben, dass dieser Augenblick Wirklichkeit war, bevor alles sich wieder in nichts auflöste …
Doch sie träumten nicht.
Mortimer sprang als Erster die wenigen Stufen hinauf und warf sich seiner Mutter Barbara in die Arme. Galina und ihre zwei Töchter stürzten sich auf Andrew, der unter den Umarmungen seiner Liebsten richtiggehend begraben wurde. Jetzt zeigten sich auch Akina und Virginia. Sie begrüßten die Ankömmlinge unter Tränen, hin- und hergerissen zwischen der Freude über das Wiedersehen mit den geliebten Freunden und Verwandten und der Enttäuschung, einige von ihnen – vor allem die, nach denen sie sich am meisten sehnten – nicht vorzufinden.
»Wir sollten nicht hier stehen bleiben!«, mahnte Andrew und spähte dabei die Straße hinauf und hinunter. »Lasst uns reingehen, rasch.«
Während Oksa die Stufen zur Haustür überwand, hielt sie verzweifelt nach ihrer Mutter und nach Gus Ausschau. Doch keiner der beiden war da, und in Oksa keimte Panik auf. In der Diele angekommen, entdeckte sie endlich Gus: Er kam aus ihrem früheren Zimmer, im ersten Stock gleich gegenüber der Treppe, und bei seinem Anblick wäre sie beinahe rückwärts umgefallen.
Seit sie ihn zuletzt gesehen hatte – als ihr Anderes Ich bei den Abgewiesenen am Bigtoe Square gewesen war –, hatte Gus sich noch mehr verändert. Die Haare reichten ihm jetzt bis über die Ohren, sein Gesicht wirkte verschlossen, er war abgemagert, und seine Bewegungen waren steif. Damals hatten Marie und Gus zwar nicht genau verstanden, was
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