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Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)

Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)

Titel: Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cendrine Wolf , Anne Plichota
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Oksa mit erhobenem Zeigefinger. »Ich habe mein Leben riskiert, um dieses Fläschchen aufzutreiben, also vergeude bitte nichts davon.«
    »Du hast dein Leben riskiert?«
    »Ja … Also, ein bisschen zumindest …«
    »Du hast dein Leben riskiert?«, wiederholte Gus fassungslos. »Für mich?«
    »Du wirst jetzt hoffentlich nicht stundenlang immerzu dasselbe sagen. Trink lieber aus. Es sei denn, du willst nicht mehr leben.«
    Gus gehorchte, ohne dabei den Blick von Oksa zu wenden. Als das Fläschchen bis auf den letzten Tropfen geleert war, sackte er zusammen. Oksa war sofort bei ihm, um ihn zu stützen.
    »Ich habe ganz vergessen, dich nach den Nebenwirkungen zu fragen«, sagte er schwach.
    »Mindestens an die vierzig verschiedene. Und die erste ist ein unwiderstehliches Bedürfnis, zu schlafen. Komm, ich bring dich in mein … dein Zimmer.«
    Kukka wollte Gus auf der anderen Seite stützen.
    »Schon gut«, sagte Oksa. »Das schaffe ich allein.«
    Wäre Gus nicht so angeschlagen gewesen, hätte er sicher bemerkt, wie hastig Oksas Antwort kam und wie rot ihre Wangen wurden. Trotz der Umstände verwirrte dieser erste physische Kontakt seit ihrer Rückkehr – seit Monaten! – Oksa mehr, als sie zugeben wollte. Dabei war dies wirklich nicht der passende Augenblick für derlei Gefühle. Momentan gab es Wichtigeres! Sie schüttelte den Kopf, um ihre Emotionen in den Griff zu kriegen, und wiederholte in Gedanken immer wieder den einen Satz: »Gus wird überleben. Er wird überleben! Das ist das Wichtigste.«

    Als sie in Oksas ehemaligem Zimmer angekommen waren, konnte sich Gus kaum mehr auf den Beinen halten. Oksa half ihm, sich auf einer am Boden liegenden Matratze auszustrecken. Trotz des Halbdunkels sah sie, dass ihr großes Bett verschwunden und ihr Zimmer vollkommen verwandelt war.
    »Wenn es mir besser geht, musst du mir alles ganz genau erzählen. Nur dass du es weißt«, murmelte Gus.
    Oksa strich ihm über die schweißnasse Stirn.
    »Versprochen«, flüsterte sie. »Aber jetzt musst du dich erst mal ausruhen.«
    Einem spontanen Impuls folgend, drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange, dort, wo seine Haut über dem Wangenknochen spannte.
    »Vielleicht merkt man mir das nicht an, aber ich bin froh, dich wiederzusehen …«, sagte er. Dann fielen ihm die Augen zu.
    »Ich auch, Gus«, flüsterte Oksa, bevor sie auf Zehenspitzen aus dem Zimmer schlich. »Ich auch.«

Ein unternehmungslustiger Junge
    A ls Gus eingeschlafen war, verzog Oksa sich auf den Dachboden, der früher Dragomiras Streng-vertrauliches-Atelier beherbergt hatte. Der Wunsch, nach dieser aufreibenden Nacht eine Weile allein zu sein, war übermächtig geworden. Eigentlich war es viel mehr als ein Wunsch, es war eine Notwendigkeit. Endlich in Ruhe nachdenken können, ohne dass irgendwelche Blicke auf sie gerichtet waren.
    Doch schließlich übermannte sie die Müdigkeit. Sie kuschelte sich auf ein altes Sofa und schlief ungeachtet des modrigen Geruchs und des rauen Stoffs an ihrer Wange sofort ein.

    Ein neuer Morgen brach an. Die letzten Nebelschleier dieser endlosen Nacht verzogen sich, und der Himmel erstrahlte in herbstlichem Licht.
    Die Geräusche von draußen weckten Oksa. Sie stand auf, streckte sich und strich sich flüchtig die Haare glatt. Vom Dachfenster aus konnte sie beobachten, wie der Bigtoe Square zum Leben erwachte, das Müllauto vor jedem Haus hielt, Bewohner aus der Nachbarschaft ihren Hund Gassi führten oder zum Bus eilten. Vor ihren Augen spielte sich das Alltagsleben ab, als hätte es nie etwas anderes gegeben.
    Als wäre nichts geschehen. Keine Katastrophe. Kein Notstand. Keine Toten.
    Niemand konnte leugnen, dass die Welt kurz vor dem Untergang gestanden hatte. Niemand war vom Unglück verschont geblieben. Und doch ging jeder wieder seiner Beschäftigung nach. Wie gefühllose Roboter …
    Oksa setzte sich auf den Fußboden und strich geistesabwesend mit der Hand über das Holz. Ohne Dragomiras Teppiche fühlte er sich rau und zerfurcht an.
    Genau wie ihr Herz.
    Sie presste die Hand so fest auf den Boden, dass sie blutete. Doch es half nichts, denn kein körperlicher Schmerz konnte ihre Seelenqualen auslöschen.
    Wie machten es die Menschen nur, so schnell zu vergessen? Konnten sie so leicht Trost finden?
    Der Gedanke machte Oksa fast wütend. Diese Menschen schafften es, ihren Kummer und ihre Angst zu überwinden. Man brauchte sie nur zu beobachten. Warum gelang ihr das nicht? Warum quälte sie sich immer weiter? Sobald sie

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