Oliver und Kevin
Oliver und Kevin
© Judas-Verlag, 2013
Eine Kurzgeschichte
von
Matthias Goosen
Titelbild by Mischa-Models, Berlin 2013
Für Andreas F.
Ich ha be dich gesehen und habe mir gewünscht,
dich irgendwann ke nnenzulernen,
un glaublich, der Wunsch ging in Erfüllung.
Nie gab es eine Zeit, da du und ich und diese Könige nicht auf dieser Welt waren.
Krishna
Ein heftiger Regenguss trommelt gegen die Scheiben des Westfensters. Selten sieht man durch dieses Fenster den Sonnenuntergang. Selten.
Aha! Regen heute Morgen, denkt Kevin, und vergräbt sich ein wenig tiefer unter der Bettdecke, schielt mit nur einem Auge hervor, suchend nach der Uhr, um die Zeit ablesen zu können. Er spürt, dass er auf die Toilette muss, aber es ist gerade so angenehm, so warm und schön unter der Bettdecke, dass er bleibt und den Gedanken Wasser lassen zu müssen, verdrängt.
Oliver schläft noch oder zumindest tut er so als ob. Aber wozu auch aufstehen? Draußen pfeift der Wind barsch um die Äste und alles klirrt und vibriert. Wind denkt sich Oliver. Ob der Wind nun von Osten, von Süden oder sonst wo kommt, Wind kann immer Kälte bedeuten und daran kann die Zeit auch nichts ändern. Im warmen Nest ist der Gedanke an das feuchte Zeug, das er gleich anziehen wird, an das Boot, das er wird leerschöpfen müssen, bevor es losgeht, lächerlich und anstrengend.
*
„Stehen wir auf?“, meldet sich in der Tat eine vom Kopfkissen erstickte Stimme. Es ist Oliver, der zu Kevin gekrochen kommt und ihn umarmt.
„Och, keine Eile“, antwortet ihm Kevin. Er spürt, dass der unrasierte Brummbär sein Kinn auf seinen Nacken legt und ihn dort küsst. Und er sieht sich und Oliver wieder zu der Zeit, als sie sich kennenlernten. Es war ein wunderschöner Sommer gewesen, auf einem Fest im letzten grünen Viertel der Stadt. Sie hatten viel getrunken und irgendwann hatten sie sich so viel Mut angetrunken und ihre Hemmungen fallen gelassen, dass sie sich auf eine Parkbank setzten und sich spontan küssten. Ein schöner Sommer war das gewesen, denkt sich Kevin.
„In der Wettervorhersage hieß es für den Vormittag lediglich Windstärke vier bis fünf, mit abnehmbarer Tendenz“, sagt Kevin noch immer verschlafen, obwohl ihn die Bartstoppeln wachkitzeln.
„Die Flut steigt. Meiner Meinung nach wird der Wind stärker als die Wettervorhersage annimmt. Aber wir können es ja sein lassen, wenn du zu müde bist. Wir können es uns auch im Haus gemütlich machen.“
„Müde?“ Oliver springt aus dem Bett, das ist seine Antwort. Na ja, von wegen springt – er kriecht aus dem Bett. Aber im Kopf, ja doch, da ist er noch gesprungen, wie damals, als er Kevin kennengelernt hat. Beide waren sie sportlich und fit.
Aber seit einiger Zeit findet eine subtile, fast unmerkliche Verschiebung statt. Immer war Olivers Körper ein treuer Dienstmann gewesen, der Körper eines Mannes ist stark und irgendwann im Alter wird er zur Last. Er war immer eins mit ihm und nun glaubt er einen Klotz am Bein mit sich herumzuschleppen. Er beeilt sich die Vorhänge aufzuziehen. Die Scheiben sind übersät mit Wassertropfen, die wild übereinander herfallen und sich mit metallischem Geprassel überlagern. Oliver ist heute sentimental, was leider in letzter Zeit immer häufiger geschieht. Die Regentropfen, die übereinander liegen, immer mehr werden und zum Schluss zu einem Rinnsal werden und vom Fensterglas gespült werden, erinnern ihn an Kevin. Der noch immer verschlafen im Bett liegt und leise atmet. Sie erinnern ihn an die Zeit, in der sie beide noch aktiv waren, so schnell geschwommen und geflossen sind wie die Regentropfen auf den Scheiben.
Oliver blickt zum Himmel hoch. A n einer Stelle ist der Himmel weit aufgerissen, hindurch fallen grelle Lichtstreifen, die einen Teil der Umgebung beeindruckend erhellen, der andere, der nicht beschienene Teil, wirkt bleiern. Die Landschaft ist von erhabener Schönheit. Es sind immer zwei Wetter zugleich in Irland. In einer Richtung ist Sonne und in der anderen Richtung meint man schon den Regen zu sehen. Die Linien des Horizonts, die man durch das Südfenster erblicken kann, sind gezackt, ein Zeichen dafür, dass das Meer dort draußen arbeitet . Zwar sind Kevin und Oliver schon seit mehreren Tagen unterwegs, aber sie konnten sich noch nicht so richtig aufs Fischen einstellen; der Nebel war zu dicht, so dass
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