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Opfer

Opfer

Titel: Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cathi Unsworth
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Bully und Kris quer durchs Land und folgte seinen Lieblingsbands. Die drei hätten nichts dagegen gehabt, wenn Debbie mitgekommen wäre. Ihre Mum aber schon: »Nicht vor deinem Abschluss.«
    Hätte sie Corrine nicht am Hals gehabt, hätte sie immerhin versuchen können, in den Pub zu kommen, in dem sie immer alle tranken, Captain Swing’s am South Quay. Zwei Typen aus ihrer Klasse hatten es geschafft. Darren Moorcock und Julian Dean waren über den Sommer Goths geworden und sahen mit den gefärbten Haaren und dem Make-up gleich viel älter aus. Aber sie bräuchte den Laden nur zu erwähnen, und Corrine würde die Unterlippe vorschieben, als würde sie gleich losheulen.
    Auf Michael Jackson folgte Wham! Mit »Club Tropicana«. Debbie schüttelte es förmlich.
    *
    Draußen strahlte und funkelte die Golden Mile und lockte Passanten mit einem Neon-Zwinkern. Nördlich von The Mint trappelten Pferdekutschen voller Touristen an dem neuen überdachten Vergnügungspark, dem Blumengarten und der Miniaturstadt vorbei zum nächsten Pier.
    Anders als der Britannic Pier wurde der Trafalgar Pier aus patriotischen Gründen in Auftrag gegeben – er sollte an Nelsons großen Sieg erinnern. Allerdings hatten die Bürger damals wohl nicht ganz die Begeisterung des Stadtrats geteilt, denn es dauerte ganze fünfzig Jahre, bis der Pier wirklich gebaut wurde. Dafür war er aber das eindrucksvollste Gebäude am ganzen Ufer, ein Pavillon aus Glas und Stahl, der von zwei Türmen eingerahmt wurde. Im Winter beherbergte das Gebäude eine Rollschuhbahn, aber jetzt im Sommer befand sich darin ein Biergarten, in dem das Volk zeigte, was es von großspurigen Ideen zu seiner Besserung hielt.
    Am Ende der Golden Mile blieben die Pferde stehen und ließen die begeisterten Passagiere vor den hölzernen Schneegipfeln, den funkelnden Riesenrädern und rot-gelb gestreiften Spiralrutschen aussteigen, die verrieten, dass sie am Leisure Beach angekommen waren, dem größten aller Vergnügungsbetriebe Ernemouths.
    Die kilometerlange Achterbahn war die längste von ganz Europa. Die neueste Attraktion, der Super Loop, ließ seine Fahrgäste bei hundertfünfzig Stundenkilometern in einem riesigen Kreis herumwirbeln, die Schlange davor erstreckte sich seit der Eröffnung durch den ganzen Park.
    An einem normalen Abend hätte Eric Hoyle von seinem Büro hoch im Turm in der Mitte des Parks aus mit einem Lächeln jeden Kopf in der Schlange gezählt und die fünf Pfund Eintritt plus zwei fünfzig für Speisen und Getränke zusammengerechnet. Zum sanften Rattern seiner Rechenmaschine hätte er sich dann ein Fingerbreit Whisky eingeschenkt, eine Zigarette angezündet und den Blick über sein Königreich wandern lassen, über das Spinnennetz der Lampen und hinaus aufs Meer, wo ihn die Lichter der Ölplattformen grüßten.
    Doch heute war kein normaler Abend. Heute verharrten Erics Augen auf einem Foto, das meistens im Safe verschlossen blieb und von dem Edna glaubte, er hätte es schon vor Jahren in einem seiner Wutanfälle weggeworfen.
    Seine Tochter Amanda trug einen psychedelischen Kaftan, ihr blondes Haar fiel aus einem dazu passenden Kopftuch, und im Arm hielt sie ein kleines Bündel – sein erstes und einziges Enkelkind.
    Die Zigarette in seiner rechten Hand war schon bis zum Filter abgebrannt, aber Eric merkte es nicht. Den obersten Hemdknopf geöffnet, den Schlips auf einen Aktenstapel neben die Whiskyflasche und das Glas geworfen, das heute drei Finger hoch gefüllt war, starrte er mit zusammengekniffenen Augen und grimmig aufeinandergepressten Lippen nach draußen.
    Hinter dem Leisure Beach lief die Marine Parade weiter an den Campingplätzen und windumtosten Dünen der South Denes vorbei bis zur äußersten Spitze der Landzunge, auf der Ernemouth entstanden war. Auf einer Säule gleich der in London wachte hier Admiral Nelson über sein Heimatland, den Blick Richtung Horizont gerichtet, immer auf der Hut vor anrückenden Feinden.

3
    DIE ANSTALT
    März 2003
    Eine Stunde später hatte Sean den Wald schon wieder verlassen und fuhr auf der A 11 Richtung Norwich. Die Landschaft änderte sich: Aus Kiefernwäldern und Heideland wurden weite, braune, gepflügte Äcker, Buschwälder und lange Pappelreihen. Er kam an Dörfern mit Ententeichen und Kirchen mit Flintsteintürmen vorbei, an Schrankenwärterhäuschen, Gehöften – und mit jedem Kilometer wurde der Himmel weiter und das Land flacher. Der Verkehr um ihn herum floss stetig, und die Wolken hingen immer

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