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Opfer

Opfer

Titel: Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cathi Unsworth
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Bilder gleiten, deren Schwarz- und Grautöne mit den harten Rot- und Grünklecksen gröber wirkten und denen die Dreidimensionalität des Meerespanoramas abging.
    »Das ist von ihr«, erklärte der Arzt. »Sie weiß es wahrscheinlich nicht, aber ihr Bild reiht sich wunderbar in die Aquarelltradition von East Anglia ein. Das Licht auf dem Wasser bekommt nur ein echter Könner so hin.«
    Er klang stolz, und Sean war nach dem Kommentar noch unwohler.
    »Also dann«, Dr. Radcliffe drehte sich forsch um, »hier lang, bitte. Ich habe für Ihr Gespräch mit Corrine einen unserer Ruheräume reserviert.«
    Bei der Erinnerung daran verzog Sean das Gesicht, gerade als er auf die Ringstraße um Norwich zukam und das erste Schild Richtung Ernemouth sah.
    An die stille verschüchterte Gestalt, aufgedunsen von zwanzig Jahren Psychopharmaka, die sich hinter einem langen, dunkelbraunen, mit ersten grauen Haaren durchsetzten Pony versteckte. Und an den Autopsiebericht, der ihm durch den Kopf gegangen war, als sie sich auf ihren Stuhl rutschen ließ.
    Stumpfe Gewalteinwirkung am Hinterkopf, so stark, dass sie einen Krater hinterlassen hatte …
    »Hallo, Corrine.«
    Corrine saß auf einem grauen Plastikstuhl und sah auf den Boden.
    Mehrere Zigaretten-Brandwunden auf Armen und Gesicht …
    »Ich möchte Ihnen nur kurz ein paar Fragen stellen.«
    Corrine schüttelte langsam den Kopf und rang die Hände im Schoß.
    Sechzehn einzelne Stichwunden in Brust und Unterleib, deren Muster auf einen Blutrausch des Täters schließen ließen …
    »Corrine, glauben Sie, dass Ihnen Unrecht getan wurde?«
    Corrine schüttelte weiter den Kopf und wippte auf dem Stuhl vor und zurück. Sean bekam einen trockenen Mund, alles, was er sagte, hörte sich falsch an.
    Ein mit dem Blut des Opfers gezeichnetes Pentagramm um die Leiche herum …
    »Finden Sie es fair, dass Sie hierher geschickt wurden? Oder sollte eigentlich jemand anders statt Ihnen hier sein?«
    Endlich brachte Corrine mit leiser, kindlicher Stimme etwas hervor: »Nein … bitte … gehen Sie …«
    Sean lehnte sich vor und versuchte, ihr in die Augen zu sehen. »Corrine, war noch jemand da? War jemand mit Ihnen dort?«
    Endlich hob sie den Blick und wiederholte hysterischer: »Bitte … gehen Sie … Bitte … gehen Sie!«
    In ihren Augen sah er die nackte Angst.
    Sean ließ sich dankbar vom Feierabendverkehr ablenken, während er den Wagen durchs Wirrwarr aus Überführungen und Umgehungen lenkte. Die Schilder nach Ernemouth wurden größer und waren mit den fröhlichen Symbolen für eine Rennbahn, einen Vergnügungspark und die Campingplätze geschmückt. Noch einmal rechts abbiegen, und die Straße zum Ziel lag vor ihm.
    Der lange, gerade Streifen führte durch eintöniges, flaches Marschland, in dem hier und da Schafe und die flügellosen Überreste von Windmühlen standen. Über diesen Relikten einer vergangenen Zeit erhob sich eine Reihe von Windrädern, die in den dunkelnden Himmel schnitten. Doch auch sie wirkten winzig unter der endlosen Weite.
    Die Stadt kauerte am Horizont, ein beleuchteter Kirchturm starrte in die Ferne wie ein grimmiges Auge. Zu Seans Rechten bot sich ihm ein dramatischer Blick auf den Meeresarm. Nur das Wasser konnte es mit dem Himmel aufnehmen. Als Sean am Bahnhof einbog und von dem Schild Welcome to Ernemouth begrüßt wurde, gingen die Straßenlaternen an.

4
    TANZ MIT DEM FEUER
    September 1983
    Die langen Stunden nach dem Mittagessen hatten Eric und Edna im Wohnzimmer verbracht und gehofft, dass sie über das Ticken der Uhr, das Rascheln von Erics Zeitung und das Klicken von Ednas Stricknadeln hören würden, wie das Auto in die Einfahrt fuhr. Doch als Noodles plötzlich von seinem Platz zu Ednas Füßen auf die Sofalehne sprang und abgehackt kläffte, zuckten sie beide zusammen, als hätten sie überhaupt nicht damit gerechnet.
    Ein lila lackierter Morris Minor hatte vor dem Fenster gehalten. Edna verdrängte die Schwere in ihrer Brust, als sie ihren Mann ansah, dessen Blick sie zur Tür scheuchte.
    Zuerst stieg Amanda in einer Wolke honigblonder Haare und mit einer riesigen, braunen, ovalen Sonnenbrille aus dem geschmacklosen Wagen. Ihre Figur hatte nicht gelitten, bemerkte Edna verbittert. Ihre schlanken Hüften und ihre üppige Brust waren in eine Kombination aus enger Jeanshose und -jacke gehüllt, die Absätze ihrer braunen Lederstiefel ließen sie etwas größer wirken, und um ihren Hals funkelte es golden. Amandas aufgemaltes rotes Lächeln glich dem

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