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Opferlämmer

Opferlämmer

Titel: Opferlämmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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... Eins
    Im Kontrollzentrum des ausgedehnten Gebäudekomplexes der Algonquin Consolidated Power and Light am East River in Queens, New York, saß der Leiter der Frühschicht mit einem Becher Kaffee vor seinem Monitor und betrachtete stirnrunzelnd zwei blinkende rote Worte.
    KRITISCHE STÖRUNG
    Darunter wurde der exakte Zeitpunkt der Fehlermeldung angezeigt: 11:20:20:003.
    Der Mann ließ den Pappbecher sinken – blau und weiß, mit ungelenken Abbildungen antiker griechischer Athleten – und setzte sich in seinem knarrenden Drehstuhl auf.
    Die Mitarbeiter der Leitstelle saßen jeweils an eigenen Computerplätzen. Der große Raum war hell erleuchtet und wurde von einem riesigen Flachbildschirm dominiert, auf dem der Stromfluss des als Northeastern Interconnection bekannten Verbunds dargestellt wurde. Er versorgte New York, Pennsylvania, New Jersey und Connecticut. Architektur und Dekor des Kontrollzentrums waren ziemlich modern – für 1960.
    Der Leiter hob den Blick zu der Tafel, auf der sich die Stromzufuhr der diversen im Land verstreuten Kraftwerke ablesen ließ: Dampfturbinen, Kernreaktoren und der hydroelektrische Damm bei den Niagarafällen. An einer winzigen Stelle dieses Leitungsgewirrs lief irgendetwas schief. Ein roter Kreis blinkte.

    »Was ist da los?«, fragte der grauhaarige Leiter mit dem straffen Bauch unter dem kurzärmeligen weißen Hemd. Er hatte dreißig Jahre Erfahrung in der Strombranche und war in erster Linie neugierig. Es wurden zwar immer wieder mal Störungen angezeigt, aber wirklich kritische Zwischenfälle waren sehr selten.
    »Angeblich eine vollständige Trennung«, antwortete ein junger Techniker. »MH-Zwölf.«
    Das Umspannwerk 12 der Algonquin Consolidated – »MH« stand für Manhattan – war dunkel, unbemannt und schmutzig. Es lag in Harlem und war eine große Schaltanlage, die die eintreffenden 138 Kilovolt mit Hilfe von Transformatoren auf ein Zehntel reduzierte, aufteilte und weiterschickte.
    Auf dem großen Bildschirm kam unter der nüchternen Störungsmeldung und der Zeitangabe eine weitere rot leuchtende Zeile hinzu.
    MH-12 OFFLINE
    Der Leiter tippte etwas in seinen Computer ein und musste an die Zeiten denken, als seine Arbeit noch mit Funkgeräten, Telefonen und ummantelten Schaltern erledigt wurde, umgeben von dem Geruch nach Öl, Messing und heißem Bakelit. Er las die komplizierten Textmeldungen, die über den Monitor scrollten. »Die Trenner wurden ausgelöst?«, sagte er leise wie zu sich selbst. »Warum? Die Last ist normal.«
    Eine neue Meldung erschien.
    MH-12 OFFLINE. UL AN BETROFFENES VERSORGUNGSGEBIET VON MH-17, MH-10, MH-13, NJ-18

    »Die automatische Umleitung greift«, rief jemand unnötigerweise.
    In den Vororten und auf dem Land ist das Elektrizitätsnetz offen sichtbar – von den hohen blanken Überlandleitungen zu den kleineren Strommasten und den Versorgungsleitungen, die zu den einzelnen Häusern verlaufen. Wenn eine Leitung ausfällt, lässt das Problem sich ohne große Schwierigkeiten finden und beheben. In vielen größeren Städten hingegen, so auch in New York, fließt der Strom unterirdisch durch isolierte Kabel. Da die Isolierung im Laufe der Zeit porös wird, kommt es zu Grundwasserschäden, die Kurzschlüsse und Stromausfälle bewirken. Aus diesem Grund sichern die Versorgungsunternehmen das Netz doppelt oder sogar dreifach ab. Als das Umspannwerk MH-12 ausfiel, deckte der Computer den Strombedarf automatisch durch die Kapazitätsumleitung von anderen Orten.
    »Keine Aussetzer, kein Spannungsabfall«, rief ein anderer Techniker.
    Der Strom im Netz lässt sich mit Wasser vergleichen, das über ein großes Rohr in ein Haus gelangt und dort aus zahlreichen offenen Hähnen fließt. Wird einer von ihnen geschlossen, nimmt der Druck auf allen anderen zu. Mit der Elektrizität verhält es sich genauso, nur dass sie wesentlich schneller als Wasser fließt – mit knapp 1,1 Milliarden Kilometern pro Stunde. Und da New York City sehr viel Strom benötigte, liefen die nun zusätzlich belasteten Umspannwerke mit hoher Spannung – dem elektrischen Äquivalent zum Wasserdruck.
    Aber das System war darauf ausgelegt, und die Spannungsanzeigen befanden sich immer noch im grünen Bereich.
    Was dem Leiter jedoch zu denken gab, war die Tatsache, dass MH-12 überhaupt vom Netz getrennt worden war. Die Trenner eines Umspannwerks werden meistens aus einem von zwei Gründen ausgelöst: entweder durch einen Kurzschluss oder durch eine Überlastung zu Spitzenzeiten

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