Opus 01 - Das verbotene Buch
durfte er bis dahin sowieso kein Auge zutun. Doch welche Hindernisse auch immer sich vor ihm auftürmen würden – er würde sie überwinden.
Der Umschlag war dünn und leicht, er schien nur wenige Blätter zu enthalten. Amos schob ihn unter sein Wams, während ihm der alte Mann bereits weitere Anweisungen erteilte. »Die Pferde in meinem Stall kennst du besser als ich – nimm beide mit und wechsle immer nach vier, fünf Stunden das Reittier. So kannst du die Strecke in weniger als zwei Tagen schaffen. Und nimm auch das hier an dich.« Er nestelte ein Leinensäckchen hervor und legte es in Amos’ flache Hand. Es war unerwartet schwer und ließ ein leises Klirren erklingen, als Amos seine Finger darum schloss.
»Acht Gulden«, sagte der alte Mann mit einem Lächeln. »Das müsste mehr als genug sein – für dich und für deinen einnehmenden Onkel Heribert.« Das Blut schoss Amos in die Wangen, aber Kronus schüttelte beschwichtigend den Kopf. »Nimm es nicht schwer, Junge – seine Blutsverwandten kann man sich bekanntlich nicht aussuchen, und der Ritter ist nun einmal ein Gierhals. Gib ihm einen Gulden, damit er dich ziehen lässt, und versprich ihm in meinem Namen einen weiteren, wenn du in vierTagen heil zurück bist. Du wirst sehen, das ermuntert ihn, dir keine Steine in den Weg zu legen.«
Amos hängte sich den Lederriemen um den Hals und verstaute auch den Geldbeutel unter seinem Wams. Ehe er noch etwas sagen konnte, fasste Kronus ihn wieder bei den Armen und zog ihn an sich. Flüchtig und federleicht. »Du wirst schon alles richtig machen, ich weiß es«, sagte er und schob ihn im nächsten Moment in Richtung Tür. »Aber jetzt mach schnell, du hast einen weiten Weg vor dir.«
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K
ronus’ Gulden wirkten
wahrhaftig Wunder: Kaum hatte Amos dem Onkel ein Goldstück in die Hand gedrückt, da hellte sich Heriberts Miene auf. »Und einen weiteren Gulden will er zahlen, wenn du heil zurück bist? Na, dafür lässt sich sorgen.«
Der Ritter sprang von seinem mit Bärenfell bedeckten Lieblingssessel auf. Obwohl es immer noch früh am Morgen war, hielten die meisten seiner Männer schon wieder schwappend volle Bierkrüge in Händen. Auf den Tischen im Burgsaal dampften Braten, Kohl und Gemüsebrei in großen Schüsseln. Drei Pagen musizierten mit Laute und Schalmei – in einem von ihnen erkannte Amos den jungen Bastian, den Höttsche an seiner Stelle hatte zu Kronus senden wollen.
Davon war nun keine Rede mehr, im Gegenteil. Der Onkel legte Amos einen Arm um die Schultern und bugsierte ihn zurück zum Ausgang. Einige seiner Männer lagen noch schlaftrunken am Boden – im Vorbeigehen versetzte ihnen der Ritter deftige Tritte. »Hoch mit euch, ihr Nichtsnutze. Nehmt euch ein Beispiel an dem jungen Herrn.«
Wenn Amos die Augen schloss, konnte er sich für einen Moment beinahe einbilden, dass sein Vater neben ihm ging und ihn an den Schultern umfasst hielt. Sogar die Stimmen der beidenBrüder ähnelten sich – auch wenn Heribert vom Trinken und Krakeelen ständig heiser war. »In zwei Tagen bis Nürnberg?«, rief der Ritter aus. »Das wird ein Teufelsritt, Junge.« Er schob Amos durch die schmale Tür auf den Burghof hinaus und blieb, ins helle Taglicht blinzelnd, auf der Schwelle stehen.
Kronus’ Pferde hatte Amos neben der Tür zum Palas angebunden. Der Rappe begrüßte ihn mit leisem Schnauben, während der Braune ein nervöses Wiehern hören ließ.
»Und mit zwei Rössern gar?« Nachdenklich schaute Onkel Heribert von den Pferden zu Amos. »Wozu die verdammte Eile, Junge?« Amos zuckte bloß mit den Schultern. Von ihm würde der Onkel keine weitere Silbe erfahren. »Und warum schickt er diesmal keinen Kurier los – wie sonst in all den Jahren?«
Amos schüttelte nur stumm den Kopf. Mehr als einmal schon hatte er heimlich gelauscht, wenn Höttsche dem Onkel Bericht erstattet hatte: von den Boten zu Pferde und den Emissären in Kutschen, die meist zu dunkelster Nachtstunde im einstigen Mühlhof eintrafen. Von den geheimnisvollen Truhen und Paketen, die dort abgeliefert und von Kurieren wieder in Empfang genommen wurden. Die Wappen und Siegel berühmter Klöster, Universitäten und sogar Fürstenhöfe hatten Höttsches Späher an den Truhen und Briefen angeblich bemerkt. Da lag in der Tat die Frage nahe: Warum vertraute Kronus diesmal einem fünfzehnjährigen Jungen eine so wichtige Aufgabe an?
Aber selbst wenn Amos die Antwort gekannt hätte – dem Onkel hätte er sie gewiss nicht verraten. Zu seiner
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