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orwell,_george_-_1984

Titel: orwell,_george_-_1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
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und höhnischer, ein hetzerischer Unterton kam hinein. Und dann – vielleicht geschah es nicht wirklich, vielleicht war es nur eine sich in eine Melodie kleidende Erinnerung – sang eine Stimme:
    »Under the spreading chestnut tree
    I sold you and you sold me –«
    Tränen stiegen ihm in die Augen. Ein vorbeikommender Kellner sah, daß sein Glas leer war, und kam mit der Ginflasche zurück.
    Er hob sein Glas und schnupperte daran. Das Zeug wurde mit jedem Schluck, den er trank, nicht weniger scheußlich, sondern scheußlicher. Aber es war zu dem Element geworden, in dem er schwamm. Es war sein Leben, sein Tod und sein Wiederbelebungsmittel. Der Gin versetzte ihn allabendlich in einen dumpfen Schlaf, und der Gin erweckte ihn allmorgendlich wieder zum Leben. Wenn er, was selten vor elf Uhr geschah, mit verklebten Augen, mit schlechtem Geschmack im Mund und einem wie gebrochenen Rücken aufwachte, wäre es unmöglich gewesen, sich auch nur aus der Horizontale aufzurichten, wären nicht die nachtsüber neben dem Bett stehende Flasche und Teetasse gewesen. Über die Mittagsstunde saß er mit verglastem Blick da, die Flasche griffbereit vor sich, und lauschte dem Televisor. Von fünfzehn Uhr bis Lokalschluß gehörte er zum Inventar des Cafés. »Zum Kastanienbaum«. Niemand kümmerte sich mehr darum, was er tat, keine Sirene weckte, kein Televisor mahnte ihn. Gelegentlich, vielleicht zweimal in der Woche, ging er zu einem verstaubten, vergessen aussehenden Büro im Wahrheitsministerium und verrichtete ein wenig Arbeit, oder wenigstens was man so Arbeit nennt. Er war einem Unterausschuß eines Unterausschusses zugeteilt worden, der sich von einem der unzähligen Ausschüsse abgezweigt hatte, die mit der Bearbeitung der unbedeutenden Schwierigkeiten beschäftigt waren, die sich bei der Zusammenstellung der elften Ausgabe des Neusprache-Wörterbuches ergaben. Sie waren mit der Abfassung von etwas beauftragt, das sich Zwischenbericht nannte, was es aber war, worüber sie berichteten, hatte er nie ganz herausgefunden. Es hatte etwas mit der Frage zu tun, ob Kommas innerhalb oder außerhalb der Klammern gesetzt werden sollten. Noch vier andere gehörten dem Ausschuß an, sämtlich Menschen ähnlich wie er selber. Es gab Tage, an denen sie zusammentraten, um dann gleich wieder auseinander zugehen und einander offen einzugestehen, daß in Wirklichkeit nichts zu tun war. Es gab aber auch andere Tage, an denen sie sich fast begierig auf ihre Arbeit stürzten, ein riesiges Aufheben davon machten, ihre Entwürfe zu besprechen und lange Denkschriften zu entwerfen, die nie vollendet wurden – an denen der Streit darüber, worüber sie sich eigentlich stritten, außerordentlich verwickelt und unklar wurde, mit spitzfindigen Erörterungen von Definitionen, riesigen Abschweifungen, Zänkereien, ja sogar Drohungen, sich an eine höhere Stelle zu wenden. Und dann plötzlich war ihre Lebendigkeit erschöpft, sie saßen herum und sahen einander mit erloschenen Augen an wie Gespenster, die sich beim ersten Hahnenschrei in Nichts auflösen.
    Der Televisor war einen Augenblick verstummt. Winston hob wieder den Kopf. Der Tagesbericht! Aber nein, sie schalteten nur andere Musik ein. Er stellte sich in Gedanken die Karte von Afrika vor. Die Bewegungen der Heere bildeten ein Diagramm: Ein schwarzer Pfeil stieß senkrecht nach Süden vor und ein weißer Pfeil waagerecht nach Osten, durch das Ende des ersteren hindurch. Wie zur Beruhigung blickte er zu dem unerschütterlichen Gesicht auf dem Bild empor. War es denkbar, daß der zweite Pfeil nicht einmal existierte?
    Sein Interesse erlahmte wieder. Er trank einen neuen Schluck Gin, nahm den weißen Springer zur Hand und machte einen versuchsweisen Zug. Schach. Aber es war offenbar nicht der richtige Zug, denn –
    Ungerufen kam ihm eine Erinnerung in den Sinn. Er sah ein kerzenbeleuchtetes Zimmer mit einem breiten, mit einer weißen Steppdecke bedeckten Bett, und sich selbst als einen Jungen von neun oder zehn Jahren, wie er auf dem Fußboden saß, einen Würfelbecher schüttelte und aufgeregt lachte. Seine Mutter saß ihm gegenüber und lachte ebenfalls.
    Es mußte etwa einen Monat vor ihrem Verschwinden gewesen sein. Es war ein Anblick der Harmonie, in dem der nagende Hunger in seinem Magen vergessen und seine frühere Liebe zu ihr wieder vorübergehend aufgeblüht war. Er erinnerte sich gut an den Tag, einen stürmischen Regentag, an dem das Wasser die Fensterscheibe herunterströmte und das

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