orwell,_george_-_1984
Lebhafte, berückende Vorstellungen huschten ihm durch den Sinn. Er würde sie mit einem Gummiknüppel zu Tode prügeln, sie nackt an einen Pfahl binden und sie mit Pfeilen durchlöchern, gleich dem heiligen Sebastian. Er würde sie vergewaltigen und ihr im Augenblick der höchsten Lust die Kehle durchschneiden. Deutlicher als zuvor war er sich auch bewußt, warum er sie haßte. Er haßte sie, weil sie jung, hübsch und geschlechtslos war, weil er mit ihr ins Bett gehen wollte und daraus nie etwas werden würde, denn um ihre reizende, biegsame Taille, die einen zur Umarmung aufzufordern schien, wand sich nur die verhexte scharlachrote Schärpe, das aufreizende Symbol der Keuschheit.
Die Haßwelle erreichte ihren Höhepunkt. Goldsteins Stimme war tatsächlich zu einem Blöken geworden, und einen Augenblick lang verwandelte sich sein Gesicht in das eines Schafes. Dann blendete das Schafsgesicht in die Gestalt eines eurasischen Soldaten über, der riesig und furchtbar mit ratternder Maschinenpistole auf den Besucher zuzuschreiten und aus der Fläche des Sehschirms herauszuspringen
schien, so daß manche der Zuschauer in der ersten Reihe auf ihren Sitzen zurückprallten. Aber im gleichen Augenblick, während jedem Munde ein tiefer Seufzer der Erleichterung entfuhr, zerschmolz die feindliche Gestalt in das Gesicht des Großen Bruders mit seinen dunklen Haaren und seinem Schnurrbart, das Macht und geheimnisvolle Ruhe ausstrahlte und mit seiner riesigen Größe fast den ganzen Sehschirm ausfüllte. Niemand verstand, was der Große Bruder sagte. Es waren nur ein paar Worte der Ermutigung, Worte, wie sie im Kampflärm einer Schlacht ausgestoßen werden, nicht im einzelnen unterscheidbar, die aber einfach dadurch, daß sie ausgesprochen werden, die Zuversicht wiederherstellen. Dann zerrann das Gesicht des Großen Bruders wieder, und statt seiner erschienen in klaren großen Buchstaben die drei Parteiwahlsprüche:
KRIEG BEDE U TE T F R IE DEN
F R EI H E IT I S T S K L A VE R E I
UNWI SSEN H EIT IS T S T ÄRKE
Aber das Gesicht des Großen Bruders schien sich noch einige Sekunden auf dem Sehschirm zu behaupten, so als sei der Eindruck, den es auf der Netzhaut aller Zuschauer hervorgebracht hatte, zu lebhaft, um sogleich zu verlöschen. Die kleine Frau hatte sich über die Lehne des vor ihr stehenden Stuhles nach vorne geworfen. Mit einem bebenden Flüstern, das wie »Mein Retter!« klang, breitete sie die Arme dem Sehschirm entgegen. Dann barg sie ihr Gesicht in den Händen. Offensichtlich sprach sie ein Gebet.
Jetzt stimmten alle Versammelten einen kraftvollen, langsamen und rhythmischen Sprechchor an: »G B! . . . G-B! . . . G-B!« – wieder und immer wieder, sehr langsam, mit einer langen Pause zwischen dem ersten G und dem zweiten B – in einem feierlichen, murmelnden, seltsam ungestüm wirkenden Ton, so daß man als Begleitung das Stampfen nackter Füße und das dumpfe Dröhnen von Tamtams zu hören glaubte. Vielleicht dreißig Sekunden lang fuhren sie damit fort. Es war ein Refrain, den man oft in Augenblicken überwältigender Erregung hörte. Zum Teil war es eine Art Hymne auf die Weisheit und Majestät des Großen Bruders, mehr aber noch ein Akt der Selbsthypnose, ein absichtliches Übertönen des Bewußtseins durch das Mittel rhythmischen Lärms. Winston fühlte eine Kälte in seinen Eingeweiden. Während der Zwei-Minuten-Haß-Sendung konnte er nicht umhin, gleichfalls dem allgemeinen Delirium anheim zufallen, aber dieser unmenschliche Singsang »G-B! . . . G-B!« . . . erfüllte ihn immer mit Abscheu. Natürlich stand er den übrigen nicht nach; etwas anderes wäre unmöglich gewesen. Seine Gefühle zu verschleiern, sein Gesicht zu beherrschen, zu tun, was jeder tat, gebot schon der Instinkt. Aber es gab eine Zeitspanne von einigen Sekunden, in der ihn der Ausdruck seiner Augen in bedenklicher Weise hätte verraten können. Und genau in diesem Augenblick ereignete sich das Bedeutsame – wenn es sich wirklich ereignete.
Er fing flüchtig O'Briens Blick auf. O'Brien war aufgestanden. Er hatte seine Brille abgenommen und war gerade im Begriff, sie wieder mit seiner charakteristischen Geste aufzusetzen. Aber dazwischen lag der Bruchteil einer Sekunde, währenddessen sich ihre Augen begegneten, und in diesem winzigen Zeitraum wußte Winston – ja, er wußte es! –, daß O'Brien das gleiche dachte wie er. Eine unmißverständliche Botschaft
war zwischen ihnen ausgetauscht worden. Es war, als hätten ihre
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