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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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weiter auf das Dorf zu. Er ist müde, er möchte schlafen, aber er muss die Craker beruhigen –
    zeigen, dass er sicher zurückgekehrt ist, erklären, warum er so lange weg war, seine Botschaft von Crake überbringen.
    Dafür wird er sich ein paar Lügen ausdenken müssen. Wie sah Crake aus? Ich konnte ihn nicht sehen, er war in einem Busch. In einem brennenden Busch, warum nicht? Am besten nicht zu genau werden, was die Gesichtszüge betrifft. Aber er hat ein paar Anweisungen gegeben: Ich kriege zwei Fische pro Woche – nein, besser drei – und Wurzeln und Beeren. Vielleicht sollte er Seetang hinzufügen. Die werden schon wissen, welche Arten gut sind. Und Krebse – nicht Landkrabben, die andere Art. Er wird sie sich gedünstet bestellen, jeweils im Dutzend. Das ist doch sicher nicht zu viel verlangt.
    Sobald er die Craker besucht hat, wird er seine neuen Lebensmittel verstauen und etwas davon essen und dann ein Schläfchen in seinem angestammten Baum halten. Danach wird er wieder frisch sein, und sein Hirn wird besser funktionieren, und er wird in der Lage sein, sich zu überlegen, was als Nächstes zu tun ist.
    Was als Nächstes zu tun ist – in welcher Hinsicht? Die Frage ist zu schwierig. Aber angenommen, es sind noch andere Leute in der Gegend, Leute wie er – Rauch verursachende Leute –, dann wird er in einer Verfassung sein wollen, sie anständig zu begrüßen. Er wird sich waschen – dies eine Mal kann er den Badeteich riskieren –, dann eines von den sauberen sonnenresistenten Tropenhemden anziehen, die er sich mitgebracht hat, sich vielleicht etwas vom Bart absäbeln mit der kleinen Schere am Messer.
    Verdammt, er hat vergessen, einen Taschenspiegel mitzubringen.
    Hirnlos!

    Als er sich dem Dorf nähert, hört er ein ungewöhnliches Geräusch – ein merkwürdiges Gesinge, hohe Stimmen und tiefe, sowohl von Männern als auch von Frauen –, harmonisch, zwei Noten. Es ist nicht Singen, es ist mehr wie ein Singsang. Dann ein Klong, eine Reihe von Klings, ein tiefes Wuumm. Was machen die denn? Was immer da vor sich geht, so etwas haben sie noch nie gemacht.

    Da ist die Demarkationslinie, die stinkende, aber unsichtbare chemische Wand aus Pisse, die von den Männern jeden Tag erneuert wird. Er tritt durch sie hindurch, bewegt sich vorsichtig weiter, späht hinter einem Strauch hervor. Da sind sie. Er zählt schnell durch – die meisten der Jungen, alle Erwachsenen, minus fünf –, eine Fünfergruppe muss in den Wald gegangen sein, zur Paarung. Sie sitzen in einem Halbkreis um eine grotesk aussehende Figur herum, eine vogelscheuchenartige Puppe. Ihre ganze Aufmerksamkeit ist auf sie gerichtet: Sie sehen ihn nicht gleich, als er hinter dem Strauch hervor tritt und auf sie zuhumpelt.
    Ahhh, singen sie Frauen.
    Men, stimmen die Männer ein.
    Soll das Amen heißen? Doch mit Sicherheit nicht! Nicht nach Crakes Vorsichtsmaßnahmen, seinem Bestehen darauf, diese Menschen rein zu halten, frei von jeder Verseuchung dieser Art. Und von Schneemensch haben sie das Wort ganz sicher auch nicht. Das kann nicht passiert sein.
    Klong. Kling-kling-kling-kling. Wuumm. Ahhh-men.
    Jetzt kann er die Schlagzeuggruppe sehen. Die Instrumente sind eine Radkappe und ein Metallstab – die erzeugen das Scheppern – und eine Reihe von leeren Flaschen, die von einem Ast baumeln und mit einem Schöpflöffel gespielt werden. Der Paukenschlag kommt von einer Öltonne, bearbeitet mit etwas, das wie ein Fleischklopfer aussieht. Wo haben sie diese Sachen her? Zweifellos vom Strand. Er kommt sich vor, als ob er seine alte Trommlergruppe aus dem Kindergarten beobachtet, aber mit riesengroßen, grünäugigen Kindern.
    Was ist das Ding – die Statue oder Vogelscheuche oder was es ist? Es hat einen Kopf und einen zerlumpten Stoffkörper. Es hat auch eine Art Gesicht – ein Kieselauge, ein schwarzes Auge, das Gesicht scheint ein Eimerdeckel zu sein. Ans Kinn ist ein alter Fransenmopp gesteckt.
    Jetzt haben sie ihn gesehen. Sie springen auf, kommen angelaufen, um ihn zu begrüßen, umringen ihn. Alle lächeln vergnügt; die Kinder hüpfen auf und ab, lachen; einige der Frauen klatschen vor Aufregung in die Hände. Da ist mehr Energie drin, als sie normalerweise an den Tag legen.
    »Schneemensch! Schneemensch!« Sie berühren ihn sanft mit den Fingerspitzen. »Du bist wieder bei uns!«
    »Wir wussten, dass wir dich rufen können und du uns hören und wiederkommen würdest.«

    Nicht Amen also. Schneemensch.
    »Wir haben ein Bild von dir

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