Oryx und Crake
Mango
Schneemensch erwacht vor Tagesanbruch. Reglos liegt er da und lauscht der kommenden Flut, die Welle um Welle über die verschiedenen Barrikaden hinwegschwappt, hin – her, hin – her, der Rhythmus des Herzschlags. Er würde so gerne glauben, dass er noch schläft.
Am östlichen Horizont liegt ein grauer Dunstschleier, der jetzt in einem blassroten, tödlichen Licht erglüht. Seltsam, wie zart diese Farbe noch wirkt. Davor stehen als schwarze Silhouetten die Türme im Meer und ragen absurd aus dem Rosa und Blassblau der Lagune auf. Die Schreie der Vögel, die dort draußen nisten, und der ferne Ozean, der die Ersatzriffe aus rostigen Autoteilen, aufgeschütteten Ziegelsteinen und Gerümpel aller Art abschmirgelt, klingen beinahe wie Urlaubsverkehr.
Aus Gewohnheit schaut er auf die Uhr – Stahlgehäuse, poliertes Aluminiumarmband, immer noch glänzend, obwohl sie nicht mehr geht.
Er trägt sie jetzt als seinen einzigen Talisman. Sie zeigt ihm ein leeres Zifferblatt: null Uhr. Es lässt ihm ein jähes Entsetzen durch die Glieder fahren, dass es keine offizielle Zeit mehr gibt. Niemand weiß, wie spät es ist.
»Nur die Ruhe«, sagt er sich. Er holt ein paar Mal tief Luft, dann kratzt er seine Insektenstiche, rundherum, aber nicht in der am stärksten juckenden Mitte, und achtet darauf, keinen Schorf abzulösen: Eine Blutvergiftung wäre das Letzte, was er jetzt brauchen kann. Dann sucht er den Boden unter sich nach Leben ab: Alles ruhig, keine Schuppen und Schwänze. Er klettert von seinem Baum herunter, linke Hand, rechter Fuß, rechte Hand, linker Fuß. Er bürstet Zweige und Rindenstückchen ab und wickelt sich in sein schmutziges Laken wie in eine Toga. Seine authentisch nachgebildete Red-Sox-Baseballmütze hat er über Nacht an einen Ast gehängt, um sie sicher aufzubewahren; er wirft einen prüfenden Blick hinein, schnippt eine Spinne fort, setzt sie auf.
Er geht ein paar Meter nach links, pinkelt ins Gebüsch. »Kopf hoch«, sagt er zu den Heuschrecken, die beim Aufprall des Strahls davonhüpfen. Dann geht er auf die andere Seite des Baums hinüber, weit weg von seinem gewohnten Pissoir, und stöbert in seinem Versteck, das er behelfsmäßig aus ein paar Betonplatten errichtet und zum Schutz gegen Ratten und Mäuse mit Stacheldraht umwickelt hat.
Hier bewahrt er ein paar Mangos auf – in einer zugeknoteten Plastiktüte –, eine Dose Vegetarische Sveltana-Würstchen und eine kostbare halbe Flasche Scotch – nein, eigentlich nur noch ein Drittel –, außerdem einen Kraftriegel mit Schokogeschmack, erbeutet auf einem Wohnwagenstellplatz, weich und halb in sein Stanniolpapier eingeschmolzen. Er kann sich noch nicht entschließen, ihn zu essen: Es könnte der letzte sein, den er je finden wird. Er verwahrt hier auch einen Dosenöffner und, ohne besonderen Grund, einen Eispickel; ferner sechs leere Bierflaschen, aus sentimentalen Gründen und um frisches Wasser zu lagern. Auch seine Sonnenbrille liegt hier; er setzt sie auf. Sie hat nur noch ein Glas, aber das ist besser als gar nichts.
Er knotet die Plastiktüte auf: Nur noch eine Mango ist übrig. Komisch, er hätte gedacht, es wären noch mehr. Die Ameisen sind eingedrungen, obwohl er die Tüte so fest verknotet hat, wie es ging. Sie laufen bereits seine Arme herauf, die von der schwarzen Sorte und die bösartigen kleinen Gelben. Erstaunlich, wie stark es brennt, wenn sie angreifen, vor allem die Gelben. Er wischt sie fort.
»Nur die strikte Einhaltung der täglichen Routine führt zur Wahrung der Moral und zum Erhalt der Gesundheit«, sagt er laut. Er hat das Gefühl, dass er aus einem Buch zitiert, aus irgendeiner veralteten, schwerfälligen Verhaltensregel zum Nutzen europäischer Siedler, die Plantagen der einen oder anderen Art betrieben. Er kann sich nicht entsinnen, je so etwas gelesen zu haben, aber das hat nichts zu bedeuten.
In seinem Resthirn sind viele leere Flecken, wo einst das Gedächtnis war. Kautschukplantagen, Kaffeeplantagen, Juteplantagen. (Was ist Jute?) Gewiss legte man ihnen nahe, Tropenhelme zu tragen, sich zum Dinner umzuziehen, auf Vergewaltigung der Eingeborenen zu verzichten. Nein, Vergewaltigung hätten sie nicht gesagt. Verzichten Sie darauf, mit den weiblichen Eingeborenen zu fraternisieren. Oder anders ausgedrückt…
Er könnte wetten, dass sie nicht darauf verzichteten. In neun von zehn Fällen.
»Im Hinblick auf die mildernden«, sagt er und ertappt sich dabei, wie er mit offenem Mund dasteht und sich
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