Ostsee-Storys
Arschloch auf der Welt! Hau bloß ab! In völliger Erstarrung warteten wir das Ende der Platte ab. Katter sprang sofort an die Box und wählte gleich wieder die Kinks. Aber das war jetzt natürlich nur noch aus hygienischen Gründen, um den Rex Gildo aus der Luft zu kriegen. Für den Weltrekord zählte das nicht mehr. Entsetzt hatten wir alle auf die Musikbox geglotzt und keine Augen mehr gehabt für den Fetten Feuer . Und das wird wohl genau der Moment gewesen sein, als er beim Rausgehen eben kurz hinter den Tresen griff und die Flasche Rum verschwinden ließ. Wir saßen immer noch völlig erledigt vor der Musikbox, als urplötzlich die Kneipentür aufging und der Fette Feuer der Länge nach in den Schankraum stürzte, die offenbar in störtebekerartiger Geschwindigkeit geleerte Flasche fest in der Hand.
Erst wollten wir das ja nicht, dass die Wirtin den Notarzt ruft. Und sie selber wahrscheinlich auch nicht, weil sie ja Bier an uns ausgeschenkt hatte. Aber als der Fette Feuer sich überhaupt nicht mehr bewegte und wir schon dachten, dass er abgenibbelt ist, hat sie’s dann doch getan. Und die Polizei war auch gleich da und hat uns mit zur Wache genommen. Ich war der Letzte, der die Kneipe verließ. Sach ma, Junge, rief die olle Wirtin mir hinterher, wie hieß das Musikstück eigentlich?
Ich drehte mich um. Dedicated Follower of Fashion ! – Wie bitte? , fragte die olle Wirtin. Doch ich sagte nur: Drücken Sie einfach B4!
Frau Voigt
Anfang der achtziger Jahre habe ich über eine Kollegin deren Nachbarin, Frau Voigt, kennengelernt, die von der pommerschen Ostseeküste stammte und – wenn ich mich recht erinnere – 1891 in dem kleinen Badeort Misdroy zur Welt gekommen war, wo sie auch das turbulente und brutale Ende des Zweiten Weltkrieges er- und überlebt hat, von dem sie auf eine derart packende und bildhafte Art und Weise zu erzählen wusste, dass mir vor allem ein Detail jener Berichte für immer im Kopf geblieben ist und dort wohl auch weiterhin bleiben wird. Damit meine ich nicht ihre bestürzende Beschreibung der wachsenden Angst unter den Frauen und Mädchen Misdroys angesichts der unaufhaltsam näher rückenden Truppen der Roten Armee, als auch sie sich mit den anderen in den Wald flüchtete und dort für drei Tage und Nächte versteckt hielt. Ich meine auch nicht ihre Berichte von den anschließenden Vergewaltigungen. Mir ist vielmehr ein Bild im Gedächtnis geblieben, auf dem drei Paar Schuhe zu sehen sind, ganz vorne am Strand, am Spülsaum der Ostsee. Das, so erzählte Frau Voigt, war alles, was von ihnen geblieben ist, den drei Nachbarinnen: einer Großmutter mit ihrer Tochter und Enkeltochter, die hier, um dem Schrecken zu entkommen, zusammen ins Wasser gegangen seien. Alle drei, sagte Frau Voigt, und nur die Schuhe sind geblieben, ganz ordentlich nebeneinander aufgereiht, vier große und zwei kleine .
Sansibar für Annette Korolnik-Andersch
Am südlichsten Zipfel Europas, nahe Gibraltar, an der Atlantikküste, lese ich nach Jahrzehnten noch einmal Alfred Anderschs Sansibar oder der letzte Grund , das 1957 erschienen ist und das ich erstmals als Schüler gelesen habe in Kiel. Eine Geschichte, die sich im Norden zuträgt, zur Nazizeit, in den dreißiger Jahren, an meiner heimatlichen Ostsee, in der weitgehend fiktiven Stadt Rerik. Eines von Anderschs vielen Werken, die mit dem Verschwinden zu tun haben, dem Abhauen, dem Weggehen, der Flucht, um zu überleben, aber eben auch mit dem gesuchten, ersehnten Abenteuer.
Ganz vorn im Buch stoße ich auf meine handschriftliche Eintragung aus dem August 1982: Gelesen im Zug Bern-Paris . Auch diesmal, das dritte Mal also, lese ich das Buch wieder in einem Rutsch durch, nur ab und an blinzle ich hinaus auf den Ozean und die in der Ferne schimmernde afrikanische Küste, an der vielleicht gerade jetzt wieder ein Boot klargemacht wird vor Anbruch dieser mondlosen Nacht. Ein Boot, in das sich Menschen ducken, sich in viel zu großer Zahl unter der Plane verbergen, Menschen, die einen Grund gefunden haben, einen ersten, einen zweiten und einen letzten, ihrem bisher gelebten Leben den Rücken zu kehren und nun voller Hoffnung Kurs auf eine Küste zu nehmen, an der gerade einer steht, der soeben Anderschs altes Buch wieder gelesen hat und dem auf einmal dämmert, dass es gar kein altes Buch ist.
Totentanz
Die Oma meiner Freundin Franziska war es, die als Letzte von allen aus der bereits lichterloh brennenden Lübecker Marienkirche herausgestürzt kam, einen
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