Ostsee-Storys
Wikinger.
Die Pamir
Schscht! Sei mal ’n büschen leise! Opi muss Nachrichten hörn! Und die waren schlimm damals, daran kann ich mich genau erinnern. Oder besser: an die Gesichter meiner Großeltern, das Entsetzen, den Schrecken. Die Pamir ist untergegangen, flüsterte meine Oma, Lübecks stolzer Viermaster, das Segelschulschiff Pamir , mit Mann und Maus im Hurrikan zwischen Südamerika und den Azoren. Oh ja, darunter konnte sich auch ein Vierjähriger etwas vorstellen, zumal einer, dem sein Opa schon so viel erzählt hatte über das Schiff und dessen letzten Besuch in Travemünde. Und dass sechs der Seeleute es geschafft hatten, in ihren Rettungsbooten zu überleben, sechs von sechsundachtzig, die meisten junge Burschen, Kadetten, sechzehn, siebzehn, achtzehn Jahre alt, dass sie zum Teil aus Lübeck stammten oder hier die Seefahrtsschule besucht hatten, die ich ja kannte und die ich von nun an mit ganz anderen Augen sehen sollte, wenn wir sonntags in den Wallanlagen an ihr vorbeispazierten, das alles habe ich sehr wohl mitgekriegt damals, und es soll vorübergehend sogar meinen frühkindlich-unumstößlichen Plan, einmal Kapitän zu werden, infrage gestellt haben.
Eines der beiden schwer beschädigten Rettungsboote, in dem einer der Jungs noch lebte und das die US-Küstenwache aus dem Atlantik an Bord hievte, wurde dann später nach Lübeck gebracht, wo es seitdem in einer Seitennische der alten Schiffer- und Seefahrerkirche St. Jakobi aufgestellt ist, umgeben von Wimpeln, Schleifen und Gedenktafeln, die an die Untergänge so vieler anderer Lübecker Schiffe erinnern. Sogar zwei mittelalterliche Bildtafeln verweisen hier Angst machend auf die Gefahren von Sturm, See und Schiffbruch, die den früheren Kirchgängern, den Fischern und Seefahrern, nur allzu gut bekannt gewesen sein dürften zu allen Zeiten. Als Schüler bin ich später sehr oft in die Jakobikirche gekommen und habe hier, meist völlig allein und unbeobachtet, ein paar Momente der Stille verbracht. Auch dann, zum Beispiel, wenn ich mir gerade ein paar Minuten zuvor noch im Plattenladen um die Ecke die neuesten Scheiben von Jimi Hendrix oder den Kinks angehört hatte. Es tat einfach gut, hier an diesem Rettungsboot mit seiner schweren Verwundung, seinem zerschmetterten Bug, zu stehen und ein bisschen nachzudenken über die Welt da draußen.
Einmal, als ich das hohe Kirchenschiff gerade betreten hatte und mich wieder ganz allein wähnte, setzte urplötzlich mit einer tief in die Knochen fahrenden Klangdetonation die große Orgel ein. Ich ließ mich eingeschüchtert auf einer der leeren Kirchenbänke nieder und hörte bis zum Ende zu. Da zeigte sich plötzlich der Organist auf der Empore und blickte auf mich herunter – es war, zu meinem Schrecken, niemand anders als mein Musiklehrer von der Oberschule zum Dom, bei dem ich bislang immer ziemlich schlechte Karten gehabt hatte und der das Amt des Lübecker Kirchenmusikdirektors bekleidete. Ganz kurz nur hob er seine rechte Hand, was ich als eine Art Gruß interpretierte, den ich auf gleiche Weise erwiderte. Mein virtuoser Lehrer sagte zwar nichts, aber er muss mich erkannt haben, denn von diesem Moment an herrschte zwischen uns so etwas wie ein stilles Einvernehmen, das am Ende des Schuljahres tatsächlich in meinem Zeugnis Niederschlag finden sollte. In Musik hatte er mir eine Eins gegeben, unverdientermaßen.
Das Rettungsboot der Pamir habe ich zuletzt mit einem argentinischen Freund besucht, der, sichtlich berührt, auf eine in den Farben Blau und Weiß bedruckte Seidenschleife deutete, die einige seiner Landsleute hier während eines Lübeckbesuchs als Zeichen des Respekts vor den Ertrunkenen der Pamir hinterlassen hatten: Offiziere und Mannschaften des argentinischen Schulschiffes General Belgrano . Jenes Schiffes also, das inzwischen in einem der absurdesten und sinnlosesten Kriege der Gegenwart, beim Kampf um die Falkland-Inseln – oder die Islas Malvinas, wie die Argentinier sagen – im Südatlantik von einem englischen Unterseeboot versenkt worden war. Über dreihundert Seeleute der General Belgrano sind dabei ums Leben gekommen. Die meisten von ihnen blutjung, wie damals die Jungs von der Pamir .
Der U-Boot-Pastor
Als im September 1966 ein Unterseeboot der Bundesmarine im Sturm vor Helgoland unterging, mussten wir in unserer Klasse alle an unseren ehemaligen Religionslehrer denken, einen kleinen, etwas rundlichen Herrn, der bei uns nur der U-Boot-Pastor hieß, weil er, wie er immer
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