Papa
braves Mädchen, jawohl.« Sie nickte mit Nachdruck und grinste.
»Dann, braves Mädchen, sieh zu, dass du unter die Dusche kommst, bevor du dir eine Lungenentzündung einfängst.«
»Dann darf ich notieren, dass du nicht auf meiner Seite bist?«
»Du darfst notieren, was du möchtest. Aber sieh zu, dass du dabei nicht alles vollblutest, ich habe gerade gewischt.«
Lilly zuckte mit den Achseln und stand auf. »Hm, danach sieht es gar nicht aus. Wie wäre es mit einem Tipp? Nimm das nächste Mal einen sauberen Lappen. Hat Papa sich gemeldet?«
»Mach dir keine Sorgen, er wird dich schon abholen.«
Lilly schnappte sich ihre Skates und trottete davon. Kurze Zeit später hörte Michelle das Wasser in der Dusche laufen. Sie musste nicht ausführlich mit ihrer Tochter sprechen, um zu wissen, was passiert war. Lilly hatte sich in Dinge eingemischt, die sie nichts angingen. Wie immer. Ungerechtigkeiten bekämpfte sie an Ort und Stelle.
Wahrscheinlich hatte dieser Paul jemanden drangsaliert, geärgert oder beleidigt und musste den Preis zahlen, den Lilly von ihm forderte.
So war es immer. Lilly mischte sich ein. Und manchmal bekam sie dafür eine Abreibung.
Michelle blickte erneut durchs Fenster. Bei diesem Mistwetter konnte man ja nur depressiv werden. Sie spürte einen Druck hinter der Stirn. Die ersten Anzeichen einer Migräne. Es war jedes Mal das Gleiche. An Therapietagen war sie so gerädert, dass sie Kopfschmerzen bekam, ein paar Tabletten einwarf und früh ins Bett ging. Und brachte es was?
Zumindest keine Fortschritte.
Therapien brauchen ihre Zeit
, sagte ihre Therapeutin immer.
Natürlich. Eine Kuh wird nicht nur einmal gemolken.
Sie massierte sich die Schläfen. Dabei fiel ihr Blick auf den Stapel Briefe, der die Woche über gewachsen war und den sie bisher erfolgreich ignoriert hatte.
Sie schnappte sich ein paar von ihnen und setzte sich an den Küchentisch. Sofort schlich sich das schlechte Gewissen in ihre Gedanken. Lilly hatte recht. Die Küche sah aus, als wäre eine Horde Sechsjähriger hindurchgefegt. Aber sie wusste, wenn sie jetzt putzen würde, hätte sie ein schlechtes Gewissen wegen der liegen gebliebenen Briefe.
Manchmal war die Welt äußerst kompliziert. Zumindest ihre.
Der erste Brief war von der Krankenkasse. Nichts Dramatisches. Darunter lagen Briefe vom Möbelhaus und vom Baumarkt.
Der Umschlag, den sie danach aus dem Stapel zog, versetzte ihr einen Stich. Ihr Herz begann zu rasen, und ihre Handflächen schwitzten.
Mit zittrigen Fingerspitzen riss sie ihn auf und zog ein offiziell aussehendes Papier heraus.
Er kam aus der Psychiatrie, wo ihr Exmann einsaß.
Verurteilung
hatten sie das genannt. Ihrer Meinung nach kam es einem Freispruch gleich. Für das, was er getan hatte, hätte sie ihm den elektrischen Stuhl gewünscht. Nur sagen durfte sie das niemandem. Das behielt sie für sich. Noch eine Sache, die sie in sich hineinfraß.
Unterschrieben war der Brief mit
Prof.
Dr. med. Claudia Kramme, Direktorin, forensische Psychiatrie Ruhrbach
. Ein Name, der bei ihr eine Gänsehaut hervorrief.
Bevor sie den Brief las, atmete Michelle ein paar Mal durch. Sie dachte an den Mordprozess, den man gegen ihren damaligen Mann Tom geführt hatte, und an Krammes Gutachten, das den Ausschlag gab, ihn nicht in ein Gefängnis, sondern in ein Krankenhaus zu stecken.
Tom war für Kramme doch nur eine weitere Stufe der Karriereleiter, und Michelles Einschätzung nach war sie entschlossen, die Treppe bis nach oben zu gehen, ohne dabei zurückzuschauen.
Michelle begann zu lesen.
Sehr geehrte Frau Ried,
sicherlich wird es Sie interessieren, dass Ihr Mann in unserem Klinikum große Fortschritte macht. Inzwischen hat er sich in unserer Gemeinschaft gut eingelebt und geht auch einer regelmäßigen Beschäftigung nach.
Ried
! Michelle spürte einen Kloß im Hals. Diese Kramme wusste ganz genau, dass die Scheidung inzwischen durch war. So viel Spott, wie zwischen den Zeilen zu lesen war, ließ sich kaum ertragen. Michelle fragte sich, ob diese saubere Direktorin überhaupt auf diese Weise, an ihrer Therapeutin vorbei, Kontakt zu ihr aufnehmen durfte?
Meiner Einschätzung nach ist er auf dem besten Wege zu einer psychischen Rehabilitation. Zusammen mit meinem Team habe ich eine effektive Strategie entwickelt, seine nicht auslebbaren Wünsche zu minimieren, ja sogar vergessen zu machen.
Liebe Frau Ried, mit Freude kann ich Ihnen sagen, dass Herr Ried, nicht zuletzt durch uns, ein neuer Mensch geworden
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