Paradiessucher
und ernst aussieht, und seit ich aus den Nachrichten mitbekommen habe, dass sie sich umgebracht hat, mag ich sie noch weniger. Die lachenden Schauspielerinnen sind mir lieber. Plötzlich halte ich inne. Es kommt mir auf einmal sinnlos vor, mein Heft damit zu bekleben. Ich darf es wahrscheinlich gar nicht mitnehmen.
DIE AUGEN EINES SCHMETTERLINGS
Ich springe zum Telefon und wähle Pavels Nummer. Ich kenne sie auswendig. Ist auch nicht so schwer, sie besteht aus drei Zahlen. Ich kenne sonst kaum Leute, die ein Telefon besitzen. Ein Überbleibsel meines Vaters. Wir sind sozusagen die Vorreiter der Technik! Unser Telefon sieht gut aus: Orangefarben, aus einem sehr glänzenden Plastik, und es ist so leicht, dass das ganze Telefon mit abhebt, wenn ich den Hörer nehme. Die Telefonschnur ist erstaunlich kurz und trotzdem meistens verheddert. Ich hasse es. Während ich darauf warte, dass er rangeht, denke ich an ihn, meinen Freund. Ein Schauer durchläuft meinen Körper. Ich liebe ihn, und das stellt ein Problem dar.
Wie kann sich meine Mutter über diesen wunderschönen Jungen lustig machen?! Ihn »Emanuel« nennen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich überhaupt kapiert habe, was sie mit »Emanuel« meint. Das »Mohnpüppchenmärchen« natürlich. Die Zeichentrickserie aus dem Fernsehen. Da gab es einen Schmetterling »Emanuel«, in den sich das »Mohnpüppchen« verliebte! Gut, Pavel hat schon extrem große Augen, mein Freund, aber keine Glupschaugen wie dieser Schmetterling »Emanuel«! Und dann ist »Emanuel« ein Kavalier im Herrenanzug. Das kann man von Pavel wirklich nicht behaupten. Der furzt, was das Zeug hält, macht nur schweinische Witze und liebt alles, was illegal ist.
Oder meint sie das kreisrunde Gesicht? Das wiederum hat »Emanuel« nicht. Eine Gemeinheit. Pavel ist für mich der schönste Junge, den die Mutter Erde hervorgebracht hat. Was macht da schon das Mondgesicht, was machen die Glupschaugen, wenn alles, was ich an ihm sehe, wie aus dem Katalog ist!
Ich verstehe schon, der Mund! Es muss der winzige Mund sein, der wie ein Stecknadelkopf in einem Ball steckt. Ja, den haben tatsächlich beide. »Emanuel« und Pavel.
»Ja …« Ich erkenne die Stimme seiner Schwester am Telefon.
»Hier ist …«
»Ich weiß«, unterbricht mich die freche Göre. »Er ist nicht da.«
»Wo ist er?«
»Keine Ahnung.«
»Tschüss.«
»Tschüss.«
Super, solche Gespräche liebe ich. Wenn die am Telefon ist, kommt man echt weiter. Verdammt. Wo steckt er? Kann doch nicht wahr sein. Gerade jetzt, wo ich ihn so dringend brauche, treibt er sich mit seinen idiotischen Kumpanen herum! Und übrigens hat er X-Beine, und seine Fußspitzen zeigen absurd nach außen. Von seinen schiefen Zähnen, die in alle Richtungen ragen, ganz zu schweigen. Verdammt noch mal, ich sehne mich nach ihm, weiß aber nicht, was ich ihm sagen soll. Es ist Schicksal, dass er nicht zu erreichen ist.
Langsam schlendere ich durch die sonnendurchflutete Wohnung. Sie ist gemütlich und warm. Ich öffne das Fenster und betrachte die jungen Birken, die sich sanft im Wind hin und her wiegen. Sie sind so zart und jung, dass ich sie am liebsten mitnehmen würde, an diesen Ort, den ich noch nicht kenne, irgendwohin, in eine andere Welt.
Pavel ist für mich wie ein Erwachsener. Ich weiß, er ist mit seinen 17 Jahren ohnehin quasi erwachsen, aber solchen Mut, solche Durchsetzungskraft, so ein Selbstwertgefühl hat kein 17-Jähriger.
Kennengelernt haben wir uns auf dem Gymnasium. Also, ich ihn, nicht er mich. Ich habe ihn ein Jahr lang durch die Gitterstäbe unserer Garderobe beobachtet. Tag für Tag habe ich seine braunen Augen angestarrt, fixiert, während er in seine Filzpantoffeln schlüpfte. Diese Augen, die mich nie gesehen, aber von Anfang an gefesselt haben. Seine Haut erinnerte mich an einen Pfirsich und die roten Bäckchen an blühende Rosen.
Dieser Junge hatte Geschmack. Er kam in Jeans, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, die ich mir nie hätte vorstellen können. Mit unzähligen Taschen und Reißverschlüssen ausgestattet, einfach fabelhaft. Seine Mutter hatte sie ihm aus dem westlichsten Westen besorgt. Sie sehen absolut amerikanisch aus. Jeder möchte sie haben. Und er trägt sie, trotz des Jeansverbots, in der Schule! Er hat Mut, dieser Mann. Und Glück. Die Lehrer, die seine Jeans am liebsten selber hätten, haben sie bewusst übersehen, anders kann ich es mir nicht erklären.
SCHLAFLOS IM LEBEN
Es ist 22 Uhr. Ich liege im Bett und kann
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