Totenmahl - Totenmahl - Death Dance
1
»Was meinst du? Haben wir einen Fall?«, fragte Mercer Wallace.
»Die Antwort steckt in dem Pappkarton, den du da herumschleppst.« Ich öffnete die Tür zum Büro des Lieutenants im Sonderdezernat für Sexualverbrechen.
Eine junge Frau lag mit dem Oberkörper auf dem Schreibtisch und hatte den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt. Als ich ihre Schulter berührte, hob sie den Kopf und strich sich ihre langen kastanienbraunen Haare aus dem Gesicht.
»Ich bin Alex Cooper. Von der Bezirksstaatsanwaltschaft. Sind Sie Jean?« Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie wichtig das war, was wir in den nächsten Stunden erledigen mussten.
»Ja, Jean Eaken.«
»Hat Ihnen Detective Wallace erklärt, um was es geht?«
»Er hat gesagt, dass Sie die Staatsanwältin sind, die mit den Ermittlungen beauftragt ist. Dass ich Ihnen noch einmal alles im Detail erzählen und dann einen Anruf machen soll, dessen Wortlaut Sie mir aufschreiben würden. Ist Cara noch da?«, fragte Jean.
»Sie ist ein paar Türen weiter«, sagte Mercer. »Es wäre aber besser, wenn Sie nicht miteinander sprechen, bevor wir das hier erledigt haben. Danach bringen wir Sie in Ihr Hotel, wo Sie sich ein bisschen ausruhen können.«
Ich leitete seit über zehn Jahren die Abteilung für Sexualverbrechen bei der Bezirksstaatsanwaltschaft von Manhattan, und Mercer hatte mich gerufen, damit ich aus meinem juristischen Repertoire etwas beisteuern könnte, um den Verhaftungsprozess zu beschleunigen und Jean Eakens Erfolgsaussichten vor Gericht zu erhöhen.
Er hatte mir erzählt, dass die vierundzwanzigjährige kanadische Studentin den Verdächtigen vor vier Monaten auf einer Konferenz für Jugendpsychologie an der Universität von Toronto kennen gelernt hatte, an der sie zusammen mit ihrer Freundin Cara teilgenommen hatte.
Jean unterdrückte ein Gähnen, als ich ihr die erste Frage stellte. Es war kurz vor Mitternacht. »Als Sie Selim im Januar kennen lernten, wie viel Zeit haben Sie da miteinander verbracht?«
»Ich saß bei ein paar Vorträgen neben ihm. Wir haben uns in den Pausen unterhalten. Am letzten Tag hat er mich und Cara während der Happy Hour zu einem Glas Wein eingeladen. Er hat uns erzählt, dass er Arzt ist und in Manhattan wohnt. Das war alles.«
»Hat er Sie nach New York eingeladen?«
»Nicht direkt. Ich habe ihm gesagt, dass wir noch nie dort waren, aber für das kommende Frühjahr eine Reise geplant hätten. Er war sehr freundlich, sehr nett. Cara fragte ihn, ob er uns ein günstiges Hotel empfehlen könnte, daraufhin bot er uns an, bei ihm zu übernachten.«
»Haben Sie mit ihm darüber gesprochen, wie er Sie unterbringen würde?«
»Ja, natürlich. Selim sagte, dass er entweder bei seiner Freundin übernachten oder auf dem Futon im Wohnzimmer schlafen würde. Er bot uns sein Schlafzimmer an. Er gab mir seine Visitenkarte mit seiner Büronummer, Ms Cooper. Er ist Arzt - Assistenzarzt in der Psychiatrie. Es schien uns beiden total zuverlässig zu sein.«
»Das hat er auch beabsichtigt.« Ich wollte ihr das Gefühl vermitteln, dass sie keinen Grund hatte, an ihrem Urteilsvermögen zu zweifeln.
»Hatten Sie danach noch Kontakt zu ihm?«
Jean zuckte die Achseln. »Nur ein paar E-Mails. Nichts Privates. Ich bedankte mich noch einmal und fragte, ob sein Angebot wirklich ernst gemeint war. Vor einem Monat habe ich ihm dann noch eine Mail geschickt, um unsere Reisedaten mit ihm abzuklären.«
Mercer nickte mir über Jeans Kopf hinweg zu. Er führte eine Liste der noch zu erledigenden Aufgaben, und dieser fügte er jetzt eine Notiz hinzu, bei Gericht Einsicht in die E-Mail-Korrespondenz der beiden zu beantragen. Wir hatten schon so oft zusammengearbeitet, dass wir in unserer Arbeitsweise aufeinander eingespielt waren, besonders wenn es sich um das Dokumentieren erhärtender Beweise in der oft absonderlichen Welt der Sexualverbrechen handelte.
»Haben Sie miteinander telefoniert?«
»Nur einmal, vor einer Woche. Ich hatte ihm auf Band gesprochen, wann unser Bus am Port-Authority-Bahnhof ankommen würde. Ich wollte nur wissen, ob ihm die Uhrzeit recht wäre. Er rief mich noch am gleichen Abend zurück, und wir haben uns ein bisschen unterhalten.«
»Können Sie sich noch an den Wortlaut erinnern?«
In jeder Geschworenenrunde gab es Skeptiker, die stets von einem verbalen Vorspiel ausgingen, wenn eine attraktive junge Frau bereit war, bei einem Fremden zu übernachten. Ich musste darüber Bescheid wissen, bevor ich mit
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