Passwort in dein Leben
lasse ihn nicht aus den Augen. Er sieht mich an und hat seltsamerweise etwasvon einem scheuen Tier. Dabei müsste doch ich eigentlich Angst haben. Er ist schließlich ein Junge. Ich habe das Gefühl, etwas sagen zu müssen, aber mein Hirn ist wie leer gefegt. Ein alter Rucksack auf seinem Rücken, aus dem Fackeln herausschauen.
Der fremde Junge tritt ein Stück zur Seite, damit ich vorbeikann. Es kommt mir vor wie eine Aufforderung. Meine Beine sind plötzlich schwer, würden gerne stehen bleiben. Ich sollte etwas sagen, irgendwas Interessantes … Aber da ist nichts.
Deshalb gehe ich an ihm vorbei. Seine Augen in meinem Rücken. Ich traue mich nicht, mich umzuschauen. Erst als ich kurz vor der Abzweigung bin. Vorsichtig drehe ich mich um. Nichts. Die Straße ist wie leergefegt. Es ist, als wäre er nie da gewesen. Ich mache die Augen zu. Und dann wieder auf. Niemand.
Plötzlich muss ich an den Vampirroman denken, den Julia mir geliehen hat. Schauer auf meinem Rücken. »Wenn ich einen Vampir sehen würde, würde ich ihn zuerst beißen«, hat Clara einmal gesagt. Ich muss grinsen.
Dann bekomme ich Gänsehaut. Aber ich denke, nur weil mir kalt ist. Noch eine Straße hinunter, dann bin ich zu Hause.
Unbemerkt schaffe ich es, nach oben zu kommen. Meinen nassen Schuh nehme ich mit, stelle ihn in meinem Zimmer unter die Heizung, obwohl die natürlich aus ist. Egal. Ich lege mir meine Bettdecke um die Schultern und klappe mein Laptop auf. Meine Mutter meint, ich bin internetsüchtig. Dabei checken alle, die noch kein iPhone oder Ähnliches haben, ihre Mails und ihren Facebook-Account, wenn sie nach Hause kommen. Sie schaut ja auch immer gleich auf den Anrufbeantworter …
Mario Endres
Mein Schatz, kann nicht schlafen, denke an dich.
3. November um 2:21
Ich halte mich an der Kante meines Schreibtisches fest. Die Schrift verschwimmt vor meinen Augen, mein Zimmer wackelt ein wenig und hält dann wieder still. Ich kneife die Augen zusammen. Keine gute Idee. Wieder beginnt die Welt zu schwanken.
Ich setze mich auf den Stuhl. Die Botschaft ist immer noch da. Ich schlucke. Die kleine Uhr oben an meinem Laptop zeigt Sa 3:14. Am 3. November. Es ist nicht mal ganz eine Stunde her, seit mein Freund diese Nachricht gepostet hat. Ich habe das Laptop aufgemacht, um ihm nahe zu sein, und von außen gesehen scheint alles normal. Ein Grund zur Freude sogar.
Wäre da nicht eine winzige Kleinigkeit: Es gibt keinen Mario Endres.
Ich habe ihn nur erfunden. Und jetzt postet er, während ich bei Julia auf einer Party bin.
Ich wechsle auf Marios Profil. Auch hier ein neues Post. Ein Foto vom Sternenhimmel.
Sehe mir die Sterne an und wünsche mir, sie wäre hier … 3. November um 3:28
Auf der Party hat Annabelle mich nach Mario gefragt. Wann er das nächste Mal nach Lindau kommt, um mich zu besuchen? Da habe ich mir einen Moment lang vorgestellt, wie es wäre, wenn er hier auf der Party neben mir sitzen würde, seine Wange an meiner, seine dunklen Locken kitzeln mich im Gesicht. Natürlich wusste ich trotz der Drinks, dass Mario keine Wange hat und die Locken auf dem Bild nicht seine sind, sondern die von Fernando, dem spanischen Exfreund meiner Cousine. Genauso wie die Augen, Ohren … Und seine Gedanken sind meine, seine Worte auf dem Bildschirm.
Schuld daran, dass es Mario gibt, ist, dass ich über Facebook erfahren habe, dass mein erster Freund nun mit meiner angeblich besten Freundin zusammen ist.
Als sie zum Tischtennis-Wochenende aufbrechen, stehen wir zu dritt auf dem Schulhof, Julia, David und ich. Alle anderen sind schon im Bus. David hat den Arm um meine Schulter gelegt.
»Wir müssen los«, sagt er, drückt mich noch einmal kurz und lässt mich dann los.
Julia umarmt mich. »Ich passe auf ihn auf«, sagt sie lachend.
Ich versuche ein Grinsen, das irgendwie missglückt. Es ist gar nicht so einfach, dass die beiden so vertraut miteinander sind, sich schon so lange kennen. Manchmal habe ich das Gefühl, das dritte Rad am Wagen zu sein. Aber David ist mein Freund, hat sich für mich entschieden. Ich beiße mir auf die Lippe, schlucke meine Eifersucht hinunter und sehe ihnen nach. Sie steigen die Stufen zum Bus hinauf, Julia winkt mir noch einmal zu und David nickt. Aber so genau kann ich das nicht erkennen. Hinter ihm geht die Tür zu. Sie sind verschwunden. Im Glas spiegelt sich nur noch die große Linde vom Pausenhof.
Der Bus fährt los, stößt eine Abgaswolke aus und wird dann kleiner, verschwindet hinter der
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