Patentöchter
ein Stein, und das Steinerne des Schocks weicht nicht mehr von mir.
Ich umarme meine Kinder als Stein, meine Freunde, die Familie – die vielen, vielen Menschen.
Ich kann keine Totenwache halten wie damals – ich muss mich entscheiden, planen, ich habe Verantwortung für das Weitere, für die vielen Verzweifelten um mich herum.
Ich bin ein Stein und ohne Tränen.
Liebe Corinna,
der Bericht Deiner Mutter treibt mir die Tränen in die Augen. Es ist unvorstellbar, dass Deine arme Mutter den Mord mit ansehen musste. Es ist unvorstellbar, wie sie das psychisch überstanden hat. Dieses Maß an Gewalt macht mir furchtbare Angst, und Deine Mutter scheint es – nicht als Stein, wenn ich Deine Worte über sie richtig deute – überlebt zu haben. Dabei scheint es mir fast unmöglich, solch ein Ereignis zu verkraften.
Deine Julia
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Der erste Tag der
Sommerferien
Julia Albrecht
Der 30. Juli 1977 war ein Samstag. Es war der erste Tag der Sommerferien. Ich war damals 13 Jahre alt. Ich habe diesen Tag als sehr hell in Erinnerung. Das weiße Licht des Sommers.
Am Abend gingen meine Eltern mit mir essen, zur Feier des Tages. Als Belohnung für ein gutes Zeugnis und Auftakt für viele Wochen ohne Schule. Elisabeth durfte mitkommen, seit der dritten Klasse war sie meine beste Freundin. Nach meiner Erinnerung waren wir in einem Steakhaus in der Waitzstraße, wo ich gerne hinging. Meine Mutter und Elisabeth erinnern sich aber, dass wir in einem Restaurant an der Elbe aßen.
Als wir nach Hause kamen, war es noch hell, Sommer eben. Wir verabschiedeten Elisabeth, die mit ihrer Familie in einem Haus schräg hinter dem unseren wohnte und nur über den Zaun klettern musste, um daheim zu sein. Mein Vater, meine Mutter und ich gingen die Treppe im Hausflur des dreigeschossigen Hauses hoch. Ein von außen unattraktiver Kasten mit weißer Klinkerfassade, wie sie in den Siebzigerjahren gebaut wurden, mit klar strukturierten Wohnungen innen, mit vielen Fenstern und Licht, in dem wir das oberste Geschoss mit umlaufendem Balkon bewohnten. Oben, hinter der Eingangstür, hörten wir das Telefon klingeln. Ich erinnere mich an ein etwas hektisches Mit-dem-Schlüssel-am-Schloss-Hantieren, das knapp Danebenstecken des Schlüssels, wo man doch sonst, wenn es nicht drauf ankommt, immer sofort trifft. Schließlich hatte mein Vater die Tür geöffnet und den Hörer des Telefons, das gleich hinter der Tür auf der Kommode stand, abgenommen. Es war noch lange vor der Zeit von Handys und schnurlosen Telefonen. Man telefonierte dort, wo sich das Telefon befand.
Meine Mutter und ich standen bei meinem Vater.
Ich erinnere mich nicht mehr an einzelne Wörter oder Sätze. Nur daran, dass sofort klar war, etwas Grauenhaftes musste passiert sein. Es gab keinerlei Unklarheit. Mir scheint, als hätten wir alles gleich gewusst. Susanne war Teil einer RAF – Aktion gewesen. Auf Jürgen Ponto war geschossen worden. Meine Schwester war mit zwei Begleitern da gewesen. Sie hatte nicht selbst geschossen, war aber mit den Mördern ins Haus gekommen. Sie, als Familienfreundeskind, hatte den Einlass der Gruppe ins Haus ermöglicht.
Tatsächlich ist mir nicht ganz klar, ob Jürgen zu dem Zeitpunkt noch lebte. Irgendwie meine ich mich zu erinnern, dass er im Krankenhaus war. Gleichzeitig war mir aber auch klar, dass es keine Hoffnung mehr gab.
Am anderen Ende der Leitung war der Schwager von Jürgen, der Bruder von Ignes Ponto. Es ist mir ein Rätsel, wie es Corinnas Onkel möglich war, unmittelbar nach der Tat meinen Vater anzurufen und ihm von dem Anschlag auf Jürgen zu berichten.
Meine Mutter erzählt mir, ich sei danach stundenlang durchs Wohnzimmer gelaufen und hätte gesagt: »Susanne hat nicht geschossen, Susanne hat nicht geschossen.« Lange Zeit habe ich gedacht, dass dieser Satz eine Art Beschwörungsformel war. Dabei habe ich doch nur gesagt, was geschehen – oder eben nicht geschehen – war. Denn Susanne hattenicht geschossen. Und meiner Erinnerung zufolge hatte mein Vater auch diese Information bereits am Telefon erhalten. Susanne hatte den Zutritt ermöglicht. Sie hatte Pontos am Vorabend angerufen und dringlich um ein Treffen gebeten. Pontos hatten gesagt, sie wollten am nächsten Tag verreisen. Susanne hatte dennoch auf ein Treffen gedrängt. Und Pontos hatten eingewilligt und sie für den nächsten Tag zum Tee eingeladen.
Meine Mutter erinnert sich, wie ich später mit angezogenen Beinen auf dem Sofa gesessen und gefragt hätte, wann ich
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