Patentöchter
Großvater im Bilderrahmen soll Völker ausgerottet haben? Die Augen der Kinder würden sich ungläubig weiten.
Soll ich den flammenden Nachruf von Gräfin Dönhoff vorlesen, soll ich andere niveauvolle Artikel aus dem Herbst 1977 zitieren oder soll ich nur meine eigenen Worte nehmen – ich hätte sie schon, aber ich mag sie nicht aussprechen, will aus irgendeinem Grund die Kinder nicht mit meinen Gefühlen beeinflussen. Also, was tue ich? Ich lasse den Raum der Vergangenheit verschlossen.
Julia, wie merkwürdig – sollten wir uns nun wirklich trauen, diesen Raum gemeinsam zu betreten?
Vielleicht können wir – jenseits der endlosen Regalmeter von RAF – Deutungen – bisher Unausgesprochenes und nicht Dargestelltes aufzeigen? Das ruft neben der Sorge um denschweren Weg, den wir damit zu gehen haben, auch eine bewegte Neugier in mir hervor. Den vor allem mit der Geschichte der Täter verbundenen Deutungsanspruch zu hinterfragen, der jahrzehntelang die RAF – Rezeption geprägt hat, mag nebenbei geschehen, sollte aber nicht das Hauptmotiv sein. Mir geht es vor allem darum, andere Mosaiksteine in das existierende Bild einzufügen. Für uns wird es wahrscheinlich nicht möglich sein, eine umfassende Spurensuche zu unternehmen – wir werden jedoch sicherlich manches schildern, das bisher übersehen und noch nicht dargestellt wurde.
Gewiss können wir beide auch in die »Innenräume« gehen – den Innenraum der Tat und die Innenräume unserer Erinnerungen und Gefühle. Unsere Geschichte ist nur eine Miniatur in dem ganzen » RAF – Komplex«, aber sie kann dazu beitragen, den Opfern nicht nur das Gesicht, sondern auch ihre eigene Geschichte wiederzugeben.
Kollektives Leid kann zu kollektivem Empfinden führen. Die Zeit der RAF gehört zwar zum kollektiven Gedächtnis des Landes, aber es gab kein gemeinschaftliches Leid, und mitnichten gibt es ein kollektives Empfinden. Das Drama interessierte und es wurde auch gern verwertet, politisch, kulturell, medial, aber der leidvolle Abgrund dahinter wurde nicht gesehen.
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Der 30. Juli
Corinna Ponto
Ich war nicht dabei.
Es war ein Samstagnachmittag. Ein mild beleuchteter Hochsommertag. Die gepackten Koffer für eine lang geplante Südamerikareise standen in der Garderobe. Mein Vater hatte als Kind sechs Jahre in Ecuador verbracht. Die ganze Familie, und das war schon selten geworden, wollte eine Reise zu seinen Kindheitswurzeln unternehmen und die weitläufige Verwandtschaft einer dort lebenden Cousine besuchen.
Die türhohen Fensterläden zur Terrasse waren, bis auf einen kleinen Spalt vor den Wohnzimmerfenstern und vor der hintersten Tür im Esszimmer, die weit offen stand, schon geschlossen. Der Lichtstrahl, der durch diesen Spalt fiel und die Dunkelheit des Raumes durchteilte, sollte meiner Mutter – im Schatten hinter diesem »Lichtvorhang« vor den Angreifern verborgen – eine Viertelstunde später das Leben retten.
S. hatte spät am Vorabend angerufen und wollte dringend vorbeikommen, der Besuch wurde dann aber auf den Nachmittag des folgenden Tages gelegt. S. verspätete sich eine halbe Stunde. Meine Eltern, denen die Zeit bis zur Abreise knapp wurde, tranken auf der Terrasse schon einmal Tee. Meine Mutter hatte ihrer Schwester Renate noch einen Anruf versprochen und begann ein Telefonat, das eine Art dritter Zeugenschaft begründete; es wurde mehrfach unterbrochen, lief aber auf einer Parallelspur des Dramas immerweiter, sodass ich später einmal auf den absurden Gedanken kam: Man könnte das Geschehen theatralisch formuliert auch Das Telefongespräch nennen.
Zunächst sprach mein Vater mit seiner Schwägerin. Sie plauderten, da die Reise in die Vergangenheit führen sollte, von alten Zeiten. Dann klingelte es an der Haustür.
Herr M., der Firmenfahrer meines Vaters, sagte, Susanne Albrecht sei da »mit zwei weiteren Herrschaften«. So redete er normalerweise nicht.
Auch meines Vaters Gegenfrage: »Wie schauen die denn aus?«, war sehr ungewöhnlich.
Die Antwort von Herrn M.: »Ganz manierlich.«
Nahmen da Sekunden-Intuitionen etwas vorweg?
Herr M. war nur wegen der bevorstehenden Abreise im Haus – er lebte nicht bei uns –, in einer Stunde sollte die Abfahrt sein. Mein Vater wollte das Telefongespräch noch beenden und bat Herrn M., die drei Besucher zunächst in sein Arbeitszimmer zu führen. Beim Übergeben des Telefonhörers an meine Mutter legte er aus Versehen auf.
Meine Mutter wählte neu und erzählte meiner Tante gerade,
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