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Patentöchter

Patentöchter

Titel: Patentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Albrecht & Corinna Ponto
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getan haben konnte. Sie tat mir unendlich leid, und ich dachte, meine Eltern müssten dafür verantwortlich sein, wenn sie so jenseits jeder Moral und Menschlichkeit gehandelt hatte.

    Dieses Misstrauen hat sich über viele Jahre gehalten. Erst als ich die Zusammenhänge besser verstand und zur Kenntnis nehmen musste, dass meine Schwester sehr gezielt über mehrere Jahre ihren Weg gegangen war, schrieb ich ihr die Verantwortung für das, was sie getan hatte, zu und konnte meine Eltern wieder entlasten.
    Das Merkwürdige ist, dass nicht nur ich Susanne spontan von Schuld freisprach, sondern dass alle anderen in unserem näheren Umfeld das auch taten. Im Unterschied zu mir sprachen sie allerdings auch meine Eltern gleich mit frei. In den vielen Briefen, die meine Eltern damals erhielten, ist – zum Teil ganz direkt, zum Teil zwischen den Zeilen – zu spüren, wie erleichtert die Absender sind, dass es nicht sie und nicht ihre Kinder getroffen hat.
    Mein Schmerz war völlig unartikuliert und wild. Ich trauerte um den Verlust der Schwester, ich hatte panische Angst vor einem weiteren Gewaltverbrechen, dessen Opfer ich sein könnte, ich fühlte mich bloßgestellt meinen Freundinnen und Freunden gegenüber und wie nichtexistent, weil ich von diesem Tag an für viele Jahre in den Augen der anderen die Schwester von Susanne war – und nichts anderes.

    Liebe Julia,
    Nach so vielen Jahren aus Deiner Sicht den Tag zu empfinden, trage ich wie ein erweitertes Gefühlsalbum von nun an mit mir.
    Der letzte Satz Deines Textes – Du warst für Jahre die Schwester und nichts anderes – beschreibt eine ganze Welt, die ich kenne: das Stigma des Opferseins, wie ich es nenne. Erlebt habe ich es aber erst einige Jahre später, als ich wieder zurück in Deutschland war, denn in Amerika hatte ich mich vom ersten Tag an in einer völlig abgekoppelten Biografie befunden. Davon möchte ich Dir später erzählen.
    Auch kenne ich das von Dir geschilderte Erleichtertsein der anderen. Und wie ich es kenne! Das findet sich in allerkleinsten Molekülen – im Nur-nicht-Berühren des RAF – Themas, denn es geht uns ja nichts an. Manchmal erlebe ich das heute sogar noch deutlicher, und dann ertappe ich mich, wie ich manchen Wohlsituierten in ihrer Selbst- und Weltsicherheit mit einer inwendigen Frage begegne: Haben die nichts erlebt? Diese wiederkehrende Frage ist wie ein inneres Tonband. Wenn es knisternd anläuft, schiebt sich augenblicklich eine unsichtbare Wand vor die Begegnungen und Gespräche. Ja, je länger ich darüber nachdenke: Ich teile die Menschen manchmal unbewusst ein – in die, die etwas erlebt haben, und die, die nichts erlebt haben.
    Im Grunde genommen ist das natürlich ein abwegiger Gedanke. Jeder hat sein Paket, seine Erfahrung, sein Leid zu tragen, aber da gibt es dieses Unteilbare, dieses Andere. Eine Skulptur von Vadim Sidur, die ich zusammen mit meinem Vater einmal in Kassel gesehen habe, hat mir beim Nachdenken darüber, was dieses Andere ist, geholfen. Die Skulptur trägt den Titel »Den Opfern der Gewalt«. Es ist nur ein Opfer dargestellt – symbolisch für alle. Die Figur ist gebeugt, und ihre Arme sind von hinten über dem Kopf gefesselt.
    Beides ist wahr: Das Opfer wird über alle Schmerzgrenzengebeugt, und die Gewalt ist immer hinterrücks. Die eigene Kraft wird geraubt und gefesselt. Und genau das ist der Unterschied zwischen gewaltlos Gestorbenen einerseits und Opfern von Terror, Mord und Attentaten andererseits.
    Das Opfer wird gebeugt und damit auch das Bild des gelebten Lebens, der eigenen Biografie. Mein lebenslustiger, humorvoller Vater hat für immer die Imago eines Getroffenen. Der Rahmen um sein Bild wird für immer in Schwarztönen gehalten sein, obgleich das gelebte Leben so bunt war. Der gewaltsame Tod übermalt diese Farbigkeit. Darin liegt für mich die subtilste, fürchterlichste Gewalt, und ich selbst kämpfe heute noch mit diesem Rahmen.
    Deinen Text kann ich nur in Abschnitten lesen. Bei dem Vernehmungsprotokoll von S. musste ich eine lange Pause machen und las nur wie aus den Augenwinkeln. Ich kenne dieses Zögern. Den Kopf abgewandt, die Augen schnell zugekniffen – so habe ich immer die Fahndungsplakate wahrgenommen, ob im Original oder auf den Krimiwänden in Fernsehproduktionen.
    S.’ Beschreibungen sind beachtlich ungenau. Bei der Begrüßung war meine Mutter nicht im Nebenraum, sondern, wie schon geschildert, auf der Terrasse. Auch die Beschreibung von Herrn M. ist völlig

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