Pauline Reage - Geschichte der O
Darauf fragte Sir Stephen, ob sie Photos von Jacqueline habe und half ihr, aufzustehen, damit sie sie holen konnte.
Rene, der atemlos hereinkam, weil er die vier Treppen im Laufschritt genommen hatte, fand die beiden im Salon: O stand vor dem großen Tisch, auf dem alle Bilder Jacquelines in weiß und schwarz glänzten wie Wasserpfützen in der Nacht. Sir Stephen halb auf dem Tisch sitzend, nahm eines nach dem anderen auf, wie O sie ihm reichte, und legte sie dann wieder auf den Tisch; mit der anderen Hand hielt er O am Schoß gepackt.
Von diesem Augenblick an richtete Sir Stephen, der Rene begrüßt hatte, ohne sie loszulassen - sie spürte sogar, daß seine Hand tiefer in sie eindrang - seine Worte nicht mehr an O, sondern nur noch an Rene. Der Grund dafür schien ihr klar: sobald Rene zugegen war, bestand zwar ihretwegen zwischen Sir Stephen und ihm ein Einverständnis, von dem sie aber ausgeschlossen war, sie war nur Anlaß oder Objekt, man hatte ihr keine Fragen mehr zu stellen, sie hatte keine mehr zu beantworten: was sie tun sollte, sogar was sie sein sollte, wurde ohne ihr Zutun entschieden.
Es ging auf Mittag. Die Sonne, die mit voller Macht auf den Tisch schien, rollte die Ecken der Photos auf. O wollte sie beiseite schieben und sie glätten, damit sie nicht verdorben würden, aber sie war ihrer Bewegungen nicht sicher, sie mußte ein Stöhnen unterdrücken, so sehr brannte sie Sir Stephens Hand. Sie konnte nicht mehr, stöhnte wirklich und fand sich plötzlich auf dem Rücken quer über dem Tisch liegend, mit gespreizten, herabhängenden Beinen, mitten in den Fotos, wohin Sir Stephen sie geworfen hatte, nachdem er seine Hand entfernt hatte. Ihre Füße berührten den Boden nicht, eines der Pantöffelchen glitt hinunter, fiel lautlos auf den weißen Teppich. Ihr Gesicht war in der prallen Sonne: sie schloß die Augen.
Später, viel später sollte sie sich an etwas erinnern, was ihr im Augenblick gar nicht bewußt wurde: daß sie so auf dem Tisch liegend, das Gespräch zwischen Sir Stephen und Rene mithörte, so als ginge es sie nichts an und doch das Gefühl hatte, als erlebte sie etwas zum zweiten Mal.
Und es stimmte, daß sie eine ähnliche Szene bereits erlebt hatte; denn als Rene sie zum ersten Mal zu Sir Stephen geführt hatte, hatten die beiden in der gleichen Weise über sie gesprochen. Aber dieses erste Mal war sie Sir Stephen unbekannt gewesen und Rene hatte das Gespräch geführt. Inzwischen hatte Sir Stephen sie allen seinen Launen gefügig gemacht, hatte sie nach seinem Willen geformt, hatte von ihr die unerhörtesten Dinge gefordert und erhalten, als verstehe sich das von selbst.
Sie hatte nichts mehr zu geben, was er nicht schon besaß. Wenigstens glaubte sie das. Jetzt sprach er, der vor ihr im allgemeinen so schweigsam war, und seine Worte, wie auch die Erwiderungen Renes zeigten, daß sie ein Thema wiederaufnahmen, das sie schon häufig besprochen hatten und das sie zum Gegenstand hatte. Es ging darum, wie man sie am besten verwenden, und die Erfahrungen, die sie beide mit ihr gemacht hatten, am besten ausnutzen könne.
Sir Stephen gab gern zu, daß O unendlich erregender wirkte, wenn ihr Körper von Malen irgendwelchen Art gezeichnet war, und sei es nur deshalb, weil diese Male ihr eine Täuschung unmöglich machten und auf den ersten Blick kundtaten, daß ihr gegenüber alles erlaubt war.
Denn das Wissen war eine Sache; den Beweis dafür vor Augen zu haben, den ständig erneuerten Beweis, war eine andere. Rene, so sagte Sir Stephen, habe recht gehabt mit seiner Forderung, daß sie gepeitscht werden solle.
Sie beschlossen, daß sie nicht nur um des Vergnügens willen, das ihre Schreie und ihre Tränen gewähren mochten, gepeitscht werden solle, sondern um dafür zu sorgen, daß ständig Spuren an ihr zu sehen sein würden. O hörte, noch immer auf dem Rücken liegend und innerlich brennend, unbeweglich zu und es schien ihr, als spreche Sir Stephen in wunderlicher Stellvertretung für sie, an ihrer Stelle.
Als wäre er in ihrem Körper, als hätte er die Unruhe, die Angst, die Schande empfunden, aber auch den geheimen Stolz und die ätzende Lust, die sie empfand, besonders wenn sie allein auf der Straße inmitten der Passanten ging oder einen Autobus bestieg, oder wenn sie mit den Mannequins und den Technikern im Studio war und sich sagte, daß jeder dieser Menschen, wenn ihm ein Unfall zustoßen und man ihn auf die Straße betten oder einen Arzt rufen müßte, selbst noch nackt
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