Peehs Liebe
Schrift. Mittlerweile konnte Annie sein Gekritzel einigermaÃen entziffern. Sie dachte an den Schatz, von dem er redete. Was wäre, wenn es ihn wirklich gäbe. Sie träumte davon, sich von dem Geld einen der verlassenen Siedlungshöfe in der Gegend zu kaufen und Pferde zu halten. Dann müsste sie nicht länger als Pflegerin in einem Altenheim arbeiten.
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Rosarius sprach leise von seiner Liebe zu Peeh. Annie glaubte nicht an diese Art Liebe, sie glaubte gar nicht an die Liebe, nirgendwo auf der Welt. Peeh, murmelte Rosarius,
warum erzähle ich dir und wiederhole mein Leiden und rege die ruhelose Jugend wieder auf in mir? Warum bleib ich im Frieden meines Geistes nicht stille?
Annie knipste den Fernseher aus, den eine Tagesschwester eingeschaltet hatte. Sie schaute neugierig in die Schubladen des alten Mannes. Rosarius erzählte, wie er in den Nachkriegsjahren mit Vincentini über die Dörfer gefahren war, zuerst, um von den Fliegerbomben zersplitterte Baumstämme aufzukaufen und an Holzfabriken weiterzuverhökern, später, als dieses Geschäft nichts mehr einbrachte, war Vincentini mit einem elektrischen Akupunkturgerät, das er Perseus nannte, durch die Eifel gereist und hatte kranke Leute behandelt.
Der Perseus war ein schuhkartongroÃer Kasten. Wenn man ihn aufklappte, erblickte man im Inneren ein Bedienfeld mit zwei Regelknöpfen und eine goldene Anzeigenadel, die über einer Stromskala zitterte. In der rechten oberen Ecke war das Bildnis des griechischen Helden eingraviert, der die Meduse besiegt hatte. Vincentini war überzeugt gewesen, der Perseus helfe gegen jede Art von Krankheit, gegen Angst, Bluthochdruck, Bronchitis, Depressionen, Frigidität, Hautleiden, Herzschwäche, Verstopfung, Impotenz und sogar gegen Verblödung.
Rosarius redete von seiner Mutter Kathy, von seinem Vater, dem Archäologen, der auf der Suche nach einer unter dem Sand verborgenen alten RömerstraÃe durch die Wüste gereist war, erzählte die Geschichte von Strohwangs Schatzsuche. Mit einem Mal hörte Annie dem alten Mann aufmerksam zu, sah in sein schmunzelndes Gesicht, beobachtete, wie er in sich hineinlächelte. Seine Lippen bewegten sich kaum, während er murmelte, seine Augen unter den geschlossenen Lidern rollten. Vielleicht erfuhr sie mehr von diesem Geheimnis, sie musste Rosarius zuhören, als erzeuge seine Sprache, dieses Geflecht aus Erinnerungen, so etwas wie eine schöne Melodie.
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K athy war meine Mutter, ja, ich glaube, sie war wirklich meine Mutter. Kathy erzählte mir so viel. Sie dachte, ich verstehe nichts, sie wollte einfach nur mit jemandem reden, erzählen, was sie bewegte. Wenn sie es erzählt hatte, ging es ihr gleich viel besser. Vielleicht hat das Leben nur den Sinn, dass man am Ende jemandem eine Geschichte erzählt. Peeh,
weil die Sprache ein groÃer Ãberfluà ist, das Beste bleibt doch immer für sich und ruht in seiner Tiefe.
Ich war nie sicher, ob das, was Kathy sagte, der Wirklichkeit oder nur ihrer Fantasie entsprang, ich weià nicht einmal, ob ich ihr leiblicher Sohn bin, obwohl sie mich liebevoll ihren Jungen und ihr einziges Glück nannte. Ich muss wohl Kathys Sohn gewesen sein, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass man sich jemanden wie mich freiwillig aussucht, es sei denn, man ist verrückt. Einmal, als sie sehr traurig war, erzählte sie, wie man sie abgeholt und in eine Klinik eingesperrt hatte, wo man ihr alles herausoperiert hatte, womit sie Kinder hätte bekommen können. Kathy war manchmal schon verrückt, traurig und übergeschnappt. Einmal meinte sie, sie habe mich gefunden wie die vielen Dinge, die sie einfach aufsammelte und mit nach Hause brachte. Vielleicht stimmt das ja, oder aber es stimmt nicht, und sie hat mich wirklich geboren. Ich stelle mir vor, wie ich aus Kathy gepresst worden bin und geschrien habe, laut und gellend geschrien und dann mein Leben gehabt habe, aber ich weià jetzt nicht mehr, wie ich alt geworden bin, was alles passiert ist. Ich weià nur, es müssen unendlich viele Dinge geschehen sein, und es muss Millionenüber Millionen Dinge gegeben haben, Gerüche, Farben, Gefühle und Töne, Worte und Gedanken, bis ich hierherkam, wo ich nur noch herumliege und warte, bis ich sterben werde, zu Staub zerfalle, der schweben wird, winzige, im Sonnenlicht glimmende Staubpartikel, die irgendwann irgendwo auf Wegen, StraÃen, auf Autos, in Wimpern,
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