Totenkopf-TV
Sie hieß Ellen Page, war blond, nett, und ihr Lächeln kannten Millionen von Zuschauern. Sie war Fernsehansagerin und sehr beliebt. Täglich flatterten ihr Dutzende von Heiratsanträgen ins Haus. Da sie eine geheime Telefonnummer besaß, blieben ihr wenigstens unnötige Anrufe erspart.
Die meisten Briefe warf Ellen weg. Einer jedoch interessierte sie an diesem Freitagmorgen besonders. Er steckte in einem pechschwarzen Kuvert. Ellens Finger zitterten, als sie den Umschlag aufschlitzte. Die Botschaft war kurz und mit roter Schrift geschrieben. Auf dem ebenfalls schwarzen Papier stand:
HEUTE ABEND WIRST DU STERBEN!
***
Neben dem Schminkspiegel und zwischen den beiden vergilbten Werbeplakaten von TTV hing eine runde Normaluhr. Sie ging auf die Sekunde genau und wurde von denen, die die Garderobe benutzten, spöttisch Antreiber genannt. Fiel einmal der Strom aus, schaltete die Uhr auf Batterie um, und man musste sie schon zerstören, um sie aus dem Rhythmus zu bringen. Aber das wollte keiner.
Auch Ellen Page nicht, als sie um 18.00 Uhr die Garderobe betrat. Ihr Dienst begann zwar erst eine Stunde später, doch sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, stets sehr früh anwesend zu sein, damit sie sich noch in Ruhe zurechtmachen konnte. Den letzten Schliff gab ihr dabei Molly, die Garderobiere. Eigentlich hatte sie schon längst das Rentenalter erreicht, aber sie machte immer weiter. Als Witwe hätte sie sonst die große Einsamkeit überkommen.
Molly war im Moment nicht im Raum, und so betrat Ellen allein die Garderobe.
Sie liebte und hasste den Raum gleichzeitig. Das Licht war so gnadenlos. Wer die Jahre hier verbracht hatte, wurde durch die Leuchtkraft der Lampen regelrecht seziert. Da konnte man kein Fältchen verschleiern, wenn nicht Molly mit Cremes und Schminke eingriff. Wie immer fiel die Tür von allein ins Schloss, und wie immer funktionierte die Heizung nicht so recht. Sie lief nur auf halber Kraft. Auch der Geruch war gleich. Wenn man tief einatmete, schmeckte man Parfüm, Spray und Puder auf der Zunge. Besucher bekamen oft ein Kratzen im Hals. Ellen kannte das, sie hatte sich daran gewöhnt. Aber an diesem Abend kam es ihr fremd vor. Den Mantel hängte sie an den Haken, die kleine Tasche warf sie auf den Garderobentisch, und als sie Platz nahm, hatte sie das Gefühl, in einem fremden Raum zu sitzen. Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. War es überhaupt ihr Gesicht? Sie schluckte, hob die rechte Hand und spreizte Daumen und Zeigefinger ab. Mit den Kuppen fuhr sie über zwei Falten, die sich an den Wangen gebildet hatten und nicht mit dem Begriff Grübchen entschuldigt werden konnten. Nein, das war echt. Mit 29 war man zwar noch herrlich jung, aber man gehörte nicht mehr zu den Jüngsten. Die heutige Zeit war einfach zu schnelllebig, wurde von der Werbung stark beeinflusst, und Ellen hatte auch die prüfenden Blicke der verantwortlichen Programm-Macher nicht vergessen, als sie eine Party zu ihrem letzten Geburtstag gab.
Wie lange konnte sie den Job noch ausüben? Ein Jahr, vielleicht zwei? Dann war es vorbei, denn sie wusste, dass hinter ihr schon die Jüngeren standen. Die achtzehnjährigen Dinger, die mit Sex, großer Klappe und vielen Versprechungen versuchten, sich für die entsprechenden Jobs zu qualifizieren.
Fünf Jahre war sie bei der TTV beschäftigt. Ein Privatsender war da rigoroser als ein staatlicher. Man gierte nach Zuschauern, denn Zuschauer bedeuteten Werbegelder.
Ellen atmete schwerer als sonst. Sie öffnete ihre Handtasche und holte aus dem Etui eine schwarze Filterlose. Es war eine starke französische Zigarette.
Als sie die Flamme des Feuerzeugs sah, bemerkte sie auch das Zittern. An der Flamme lag es nicht, dafür an ihren Händen. Auf sie hatte sich ihr nervöser Zustand übertragen. Vielleicht war es auch schon Panik, denn sie hatte die Botschaft nicht vergessen.
Heute Abend wirst du sterben!
Immer wieder hatte sie daran denken müssen. Auch jetzt spukte ihr dieser Satz im Kopf herum. Er hatte sie gezeichnet, fertiggemacht und gezwungen, wieder einmal zu den Tabletten zu greifen, damit sich ihre Nerven beruhigten.
Die Wirkung der Medizin hatte nachgelassen. Sie wusste selbst, dass es nichts taugte, wenn man die kleinen, bunten Dinger schluckte, aber sie hatte einmal damit angefangen und sich daran gewöhnt. Jetzt war es schwer, davon loszukommen.
Den Rauch blies sie gegen die Spiegelfläche, wo er ihr Gesicht als schwammige Maske erscheinen ließ. Ellen fand sich
Weitere Kostenlose Bücher