Pelagia und der rote Hahn
Gekreuzigte!«
Immer wieder sagte er zornig: »Ich bin de‘ Gek’euzigte, ich bin de’ Gekreuzigte!« Da war ich mir sicher, dass ich einen geistig Verwirrten vor mir hatte. Trotzdem war dieser Mensch mir sympathisch, ich fand ihn immer noch interessant. Ich verspürte den Wunsch, seinen verfinsterten Verstand aus der Dämmerung zurück ins Licht zu führen, und sagte behutsam: »Aber wie kannst du Jesus sein? Wurdest du denn gekreuzigt?«
Aber diese Frage steigerte seine Erregung nur noch mehr.
»Eben nicht! Nicht ich wurde gekreuzigt, ich gerade nicht! Zuerst hab ich das gar nicht begriffen, aber irgendwann wurde mir auf einmal alles klar! Es ist alles ein schrecklicher Irrtum, ein zweitausend Jahre alter Irrtum!«
»Und wer war es dann, der gekreuzigt wurde?«, fragte ich noch sanfter.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht Didymos, oder vielleicht Judas Thaddäus. Die ganze Zeit, seitdem ich begriffen habe, was dort geschehen ist, versuche ich schon herauszufinden, wer von ihnen getötet wurde. Didymos ist mir wie aus dem Gesicht geschnitten, daher hat er auch seinen Namen – Didymos bedeutet ja auf Griechisch ›Zwillingsbruder‹. Aber Judas Thaddäus sieht mir auch ziemlich ähnlich, er ist ja mein Cousin.« (Das Wort klang aus Immanuels Mund etwas seltsam, aber mir fiel ein, dass der Apostel Judas Thaddäus ja tatsächlich ein Cousin Jesu war.) »Didymos könnte es schon gewesen sein, weil er so ein Hitzkopf ist! Und ein Dickschädel. . . Aber er war es nicht. Ich habe furchtbar gelacht, als ich im Evangelium las, wie er seinen Finger in die Löcher von den Nägeln steckte. Das ist typisch Didymos Thomas, das passt zu ihm. Aber dann kann er es nicht gewesen sein, der gekreuzigt wurde. Bestimmt war es Judas Thaddäus, der Neffe meiner Mutter. Oder vielleicht doch Nathanael? Der hat auch blaue Augen. In Jerusalem kannte mich allerdings kaum jemand von Angesicht, also kann sich jeder Einzelne meiner Scheluchin für mich ausgegeben haben. Nein, ich komme nicht darauf, wen sie hingerichtet haben. Aber wer sich das alles ausgedacht hat, das weiß ich ziemlich sicher – das war der andere Judas, der aus Karioth. Er ist nämlich Judäer, die sind schlauer als wir aus Galiläa. Judas, der Sohn von Simon, der hat den Kephas angestiftet, und der hat dann die anderen überzeugt. Auf Kephas haben sie immer gehört. Weißt du, die beiden waren es nämlich, die mich hierher gebracht und eingesperrt haben, Kephas und Judas.«
Er deutete auf die Höhle.
Seine weitere Erzählung gebe ich verkürzt wieder, meine eigenen Fragen, seine Ausrufe und auch meine Gedanken bezüglich der Glaubwürdigkeit der geschilderten Ereignisse werde ich übergehen. Es ist besser, wenn Sie sich darüber selbst Ihre Meinung bilden.
Also, wenn man dem Erzähler glaubt (das heißt dem vagabundierenden Propheten Immanuel-Jehoschua, der vor neunzehn Jahrhunderten in Palästina lebte), so kam er am Vorabend des Passahfestes in die Stadt Jerusalem. In seiner Begleitung waren zwölf Schüler, die sich ihm während seiner Wanderung angeschlossen hatten. Die meisten von ihnen waren Fischer vom See Genezareth, die Übrigen kann man der Kategorie der Miserablen zuordnen – offensichtlich hatte Immanuel schon immer eine Schwäche für die Bettler.
In Jerusalem, wo man bis dahin nie etwas von Immanuel gehört hatte, sprach er wie gewohnt auf der Straße mit den verschiedensten Leuten. Die einen beschimpften ihn, die anderen hörten ihm aufmerksam zu. Schließlich wurde der Ketzer, der sich gegen die Grundlagen des Glaubens verging, bei den Behörden denunziert, und der Prediger musste sich verstecken. In der Nacht auf Freitag versammelten er und seine Schüler sich innerhalb der Stadtmauern im Garten Gethsemane und hielten Rat, was weiter geschehen sollte, und ob es nicht das Beste wäre, aus der Stadt zu fliehen. Aber alle Wege waren überwacht, und die berittenen Soldaten würden die Flüchtigen mit Leichtigkeit ergreifen können.
Da sagte Kephas, der Älteste der Scheluchin: »Lehrer, ganz in der Nähe gibt es einen Ort, wo man sich verstecken kann. Bleibe dort zwei oder drei Tage, bis sie die Suche einstellen.« Kephas und ein weiterer Scheluach, mit Namen Judas, der Sohn von Simon, den Immanuel als »sehr klug und gewitzt« bezeichnete, brachten ihren Anführer auf den Ölbergy zum Grundstück einer armen Witwe. Dort hatte man kürzlich eine uralte Höhle entdeckt, in der man einst die Toten bestattete, bis es in der Gruft keinen Platz mehr
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