Pelagia und der rote Hahn
davon, es ist sehr wichtig für mich!« Immanuel setzte gerade zu einer Antwort an: »Ich glaube, nein, ich bin überzeugt davon, dass jede Seele im Augenblick des Todes . . .« Weiter kam er nicht, denn in dem Moment riss sich der schreckliche Hahn los und rannte über ein Stück Brachland davon! Wir mussten ihn jagen und einfangen. Stellen Sie sich vor, das gab vielleicht ein Spektakel! Ein mörderisches Kikeriki, pfeifende und johlende Gaffer, und die Federn flogen nach allen Seiten. So habe ich nicht mehr erfahren, was mir Immanuel über das Jenseits offenbaren wollte.
***
Jetzt, da ich allein bin, weiß ich, dass ich die wertvollen Stunden, die wir zusammen verbrachten, leichtfertig vergeudet habe. Ich habe selber viel zu viel geplappert, anstatt ihm zuzuhören. Manchmal redete ich über irgendwelche Nichtigkeiten, manchmal sagten wir auch einfach gar nichts.
Wie sehr unterscheidet sich der heutige Tag von gestern! Wie unnötig ist alles, worauf mein Blick fällt! Wie verwaist ist alles um mich herum! Die Welt scheint mir plötzlich leer.
Warum habe ich ihn fortgehen lassen? Warum habe ich ihn nicht zurückgehalten?
Ich dachte, er würde gegen Morgen zu mir ins Hotel kommen, vielleicht ein wenig verlegen und wieder zur Vernunft gekommen, und dann hätten wir zusammen über diesen dummen Hahn gelacht.
Ich habe die ganze vergangene Na cht nicht geschlafen. Immer wieder kicherte ich und freute mich im Voraus, wie ich mich über ihn lustig machen würde. Und ich überlegte, was ich ihn fragen würde, wenn er zurückkäme.
Aber natürlich kam er nicht zurück.
O Gott, was habe ich nur angerichtet!
Und wenn auf einmal alles wahr ist?
Dann ist er – ER, dann wird man IHN ergreifen, man wird ihn geißeln und ihm die Dornenkrone aufsetzen, man wird ihn ans Kreuz schlagen!
Und ich habe ihn gehen lassen!
Aber hätte ich ihn denn zurückhalten können? Er ist zwar sanft und gütig, und auch ein wenig linkisch, aber ihn aufhalten, das ist unmöglich. Der weise »Prokurator« hat das nur zu gut verstanden.
Gestern Nacht ist Immanuel mit dem roten Hahn in die Höhle gegangen und nicht mehr zurückgekehrt.
Heute ist Samstag.
Zuerst habe ich auf ihn gewartet, aber dann wusste ich: er kommt nicht mehr. Ich habe mich hingesetzt, um diesen Brief zu schreiben. Nur einmal habe ich diese Arbeit unterbrochen – ich bin auf den Markt gegangen und habe einen roten Hahn gekauft.
Ich habe ja jetzt schon Erfahrung damit. Der neue Hahn ist ein fügsamer Geselle und noch röter als der gestrige. Da sitzt er und schielt mich mit seinem runden Auge an und pickt Hirse von einer Untertasse.
Den Brief hinterlege ich in der Mission, obwohl ich überzeugt davon bin, dass ich ihn morgen früh dort wieder abholen werde.
Alles Geld, das mir noch übrig geblieben ist, schicke ich an Salach. Der Arme hat in jener Nacht bestimmt auf mich gewartet, und ich bin nicht zurückgekommen. Wahrscheinlich denkt er, ich hätte mich heimlich davongestohlen, ohne mich bei ihm zu bedanken und ohne zu zahlen.
Sollten Sie jedoch diesen Brief trotzdem lesen, halten Sie mich bitte nicht für eine entlaufene Nonne, die ihr Gelübde gebrochen hat. Ich bin und bleibe eine Braut Christi, wem sollte ich folgen, wenn nicht ihm?
Ich werde einen Tag nach IHM dort ankommen. Und wenn Er schon gekreuzigt wurde, werde ich seinen Leib mit meinen Tränen waschen und ihn mit Myrrhe und Aloe salben.
Runzeln Sie nicht die Stirn! Ich habe nicht den Verstand verloren, ich habe höchstens nach dieser schlaflosen Nacht und aufgrund der inneren Anspannung einen gewissen Hang zur Exaltiertheit.
Denn ich verstehe jetzt alles sehr gut. Ich weiß, was tatsächlich geschehen ist.
Vor drei Jahren kroch ein Vagabund, ein sonderbarer Kauz, in den Bergen des Urals in eine Höhle, um dort die Nacht zu verbringen. Diese Höhle war aber eine eigenartige, ungeheure Höhle, die Menschen, die dort hineingingen, hatten seltsame Visionen, und auch dem Vagabunden muss so etwas wie eine Vision erschienen sein, wodurch seine Sprache und sein Gedächtnis verwirrt wurden, und danach glaubte er, er sei Jesus Christus. Zweifellos war er in eine Art geistige Verwirrung gefallen, aber sein Zustand war nicht bösartig, sondern gut, so wie bei den Gottesnarren.
Sie verstehen, ja?
Und das Erstaunlichste an dieser Geschichte ist, dass man nichts nachprüfen und nichts beweisen kann, so wie es bei Glaubensfragen immer ist. Die ganze Welt ist auf Ungereimtheiten aufgebaut, wie ein Schriftsteller
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