Perry Rhodan Neo 001 - Sternenstaub
Sue wusste zu gut um ihre Zerbrechlichkeit, um ein unnötiges Risiko einzugehen. Sie hatte ihren Armstumpf aus dem Ärmel gezogen, drückte ihn unter dem T-Shirt eng an den Körper, als handle es sich dabei um ein unsagbar wertvolles, zerbrechliches Gut.
Zwei Schwarze standen in der Mitte des Kreises. Sie waren muskulös, einen Kopf größer noch als Marshall, der als hochgewachsen galt. Die beiden Schwarzen umkreisten einander breitbeinig und federnd, zum Sprung bereit. Sie belauerten einander, suchten nach der Gelegenheit zuzustechen. In den Händen hielten sie Messer.
Sie wirkten wie Spiegelbilder.
Damon und Tyler. Die Zwillinge. Eben fünfzehn geworden; Kinder, die in den Körpern von Erwachsenen steckten.
Die Zwillinge schenkten Marshall keine Beachtung. Sie waren ganz aufeinander fixiert. Und sie wussten, dass sie stärker waren als Marshall. Er konnte sie nicht daran hindern, einander umzubringen.
Sue lag Marshall schon lange in den Ohren, Damon und Tyler aus dem Shelter zu werfen. Das Mädchen, das im Körper eines Kleinkinds steckte, vor fünfzehn Jahren geboren und auf der Straße lange vor ihrer Zeit gereift, hatte Angst vor den Zwillingen, die sich an keine Regeln hielten und immer drauf und dran waren zuzuschlagen.
Sie brachten Unruhe in den Shelter. Tickende Zeitbomben, hatte Sue ihn gewarnt. Damon und Tyler hätten ein Versteck. Sue wusste nicht, wofür. Die Zwillinge horteten etwas, wahrscheinlich Drogen.
Marshall hatte die Jungen trotzdem im Shelter behalten. Draußen hätten Damon und Tyler kein halbes Jahr überlebt. Die Gangs in Sugar Land warteten auf Jungs wie sie. Perfekte Rekruten. Innerhalb von zwei Wochen hätte man sie zu Dealern gemacht, innerhalb von drei Monaten zu Killern – und danach war es nur eine Frage der Zeit, bis ein anderer Killer schneller war als sie.
Marshall wollte ihren Tod nicht auf dem Gewissen haben. Er glaubte, dass in den Zwillingen Gutes steckte. Irgendwo, tief verschüttet, doch es existierte. Er musste ihnen nur die Chance geben, es zu entdecken.
»Ich habe gefragt, was hier los ist!«, wiederholte Marshall.
Keine Antwort.
Sue zupfte an seinem Hemd. Marshall folgte der Richtung, die ihr Blick ihm vorgab.
Tylers Hals. Er war nackt. Der Glücksbringer fehlte.
»Wo ist dein Amulett, Tyler?«, fragte Marshall.
Diesmal reagierte der Junge. »Er hat es gestohlen!« Tyler blickte seinen Bruder aus vor Wut sprühenden Augen an, zeigte mit der Klinge des Messers auf ihn.
Das Amulett war Tylers wichtigster Besitz auf der Welt. Der Heilige Christophorus, der das Jesuskind über den Fluss trägt. Billiger Plastiktand, von dem die Farbe abblätterte. Tyler hatte es in einer Mülltonne gefunden, lange bevor er in den Shelter gelangt war. Der Heilige, glaubte der Junge, war an seiner Seite, geleitete und schützte ihn.
Ein unsinniger Glaube in Marshalls Augen, der weder an Heilige noch an Götter glaubte. Aber weit verbreitet. Jedes der Kinder hatte irgendetwas: ein Amulett, einen Ring, eine Hasenpfote, eine alte Münze, an dem es sich festhielt. Oder, wie Sid mit der Raumfahrt, eine fixe Idee.
»Er lügt!«, schrie Damon. »Ich habe seinen blöden Heiligen nicht!«
»Du hast ihn! Er ist weg!«
»Wieso glaubst du, dass dein Bruder das Amulett gestohlen hat?«, schaltete sich Marshall ein. Die Zwillinge hatten ihr Schweigen gebrochen. Jetzt musste er sie am Reden halten. »Tyler, kann es nicht sein, dass du dein Amulett verlegt hast?«
»Ich lege es nie ab!«
»Und jetzt ist es verschwunden, das macht dir Sorge«, schloss Marshall. »Das verstehe ich. Aber wie kommst du darauf, dass ausgerechnet dein Bruder es dir gestohlen hat?«
»Weil er neidisch auf mein Amulett ist! Schon immer!«
»Bin ich nicht!«, schrie Damon.
Hätte John Marshall die Augen geschlossen, er hätte geglaubt, zwei Schüler vor sich zu haben, die sich über ein verlorenes Sammelbild stritten. Doch das hier war keine Kleinigkeit. Marshall konzentrierte sich, horchte in sich hinein. Er spürte die Verletzungen der beiden Jungen, die niemals in ihrem Leben geliebt worden waren. Er spürte ihre unstillbare Wut, die sie immer wieder dazu trieb, andere zu verletzen. Sie war nahezu übermächtig, trieb Marshall Tränen in die Augenwinkel. Und sie war unmissverständlich: Fand er nicht rasch eine Lösung, würde es zu einem Totschlag kommen.
»Gib es wieder her, Damon!«
»Ich habe dein bescheuertes Amulett nicht!«
»Lügner!«
Tyler schnellte vor. Sein rechter Arm zuckte nach vorne.
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