Peter Hoeg
nüchtern ist, ist sie steif, stumm und gehemmt. Wenn sie voll ist, ist sie quietschvergnügt und spritzig.
Da sie heute morgen Antabus genommen und nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus sozusagen auf die Tablette getrunken hat, tritt diese schöne Verwandlung natürlich durch den Schleier eines vergifteten Organismus zutage. Aber trotzdem geht es ihr spürbar besser.
»Smilla«, sagt sie, »ich liebe dich.«
Man sagt, in Grönland wird viel getrunken. Das ist eine vollkommen unsinnige Untertreibung. Es wird kolossal getrunken. Deshalb habe ich auch dieses spezielle Verhältnis zum Alkohol. Wenn ich Lust auf etwas Stärkeres als Kräutertee kriege, denke ich immer daran, was der freiwilligen Alkoholrationierung in Thule vorausging.
Ich bin schon öfter in Julianes Wohnung gewesen, aber wir haben immer in der Küche gesessen und Kaffee getrunken. Die eigenen vier Wände der Leute muß man respektieren. Vor allem, wenn ihr Leben ansonsten bloßliegt wie eine offene Wunde. Doch jetzt treibt mich das dringliche Gefühl, eine Aufgabe zu haben, ich spüre, daß irgend jemand etwas übersehen hat.
Ich stöbere also herum, und Juliane läßt mich machen, was ich will. Erstens hat sie ihren Apfelwein aus dem Supermarkt, und zweitens bezieht sie schon so lange Sozialhilfe und liegt schon so ewig unter dem Elektronenmikroskop der Behörden, daß sie sich schon gar nicht mehr vorstellen kann, daß man etwas ganz für sich haben kann.
Die Wohnung strahlt die spezielle Art von häuslicher Gemütlichkeit aus, die sich einstellt, wenn man lange genug mit Clogs auf den versiegelten Dielen herumgelaufen ist, genug brennende Zigaretten auf der Tischplatte vergessen und häufig seinen Rausch auf dem Sofa ausgeschlafen hat und der schwarze Fernseher, der so groß ist wie ein Konzertflügel, das einzig Neue und Funktionierende ist.
Die Wohnung hat ein Zimmer mehr als meine, das Zimmer von Jesaja. Ein Bett, ein niedriger Tisch und ein Schrank. Auf dem Fußboden ein Pappkarton. Auf dem Tisch zwei Stöcke, ein Stein zum Himmel-und-Hölle-Spielen, eine Art Saugnapf, ein Modellauto. Und alles farblos wie Strandsteine in einer Schublade. Im Schrank Regenmantel, Gummistiefel, Clogs, Pullover, Unterwäsche, Strümpfe, alles in wildem Durcheinander hineingestopft. Meine Finger tasten unter den Kleiderstapeln und auf dem Schrank. Doch da ist nur der Staub vom letzten Jahr.
Auf dem Bett in einer durchsichtigen Plastiktüte seine Sachen aus dem Krankenhaus. Regenschutzhosen, Turnschuhe, Sweat-shirt, Unterwäsche, Strümpfe. Aus seiner Hosentasche ein weißer, weicher Stein, der als Kreide gedient hat.
Juliane steht in der Tür und weint.
»Ich habe nur die Windeln weggeschmissen.«
Einmal im Monat, wenn auch seine Höhenangst zunahm, benutzte Jesaja ein paar Tage lang eine Windel. Einmal habe ich selbst welche für ihn gekauft.
»Wo ist sein Messer?«
Sie weiß es nicht.
Auf dem Fensterbrett steht, ein kostbarer Ausruf in die Gedämpftheit des Zimmers, ein Schiffsmodell. Auf dem Sockel steht: ›Motorschiff Johannes Thomsen der Kryolithgesellschaft Dänemark ‹ .
Ich habe noch nie versucht herauszubekommen, wie Juliane sich eigentlich über Wasser gehalten hat. Ich lege den Arm um ihre Schultern.
»Juliane«, sage ich. »Würdest du mir bitte deine Papiere zeigen.«
Wir anderen haben eine Schublade, eine Mappe, eine Klarsichthülle. Juliane hat sieben fettige Briefumschläge, in denen sie die gedruckten Zeugnisse ihres Daseins aufbewahrt. Für viele Grönländer ist die schriftliche die schwerste Seite von Dänemark. Die staatsbürokratische Papierfront aus Anträgen, Formularen und Schriftwechseln mit der jeweils zuständigen Behörde. Die Tatsache, daß selbst eine fast analphabetische Existenz wie die von Juliane einen solchen Berg von Papier eingebracht hat, entbehrt nicht einer feinen und zarten Ironie.
Die kleinen Zettel mit den Terminen für das Alkoholambulatorium Sundholm, Geburtsurkunde, fünfzig Gutscheine vom Bäcker am Christianshavn Torv, die bei fünfhundert Kronen einen kostenlosen Kuchen einbringen. Kontrollkarten vom Rudolph-Bergh-Institut für sexuell übertragbare Krankheiten. Alte Steuerkarten, Kontoauszüge von der Sparkasse. Eine Fotografie von Juliane bei Sonnenschein im Kongens Have. Krankenversicherungskarte, Paß, Inkassoauszüge von den Elektrizitätswerken. Briefe von Ribers Kreditauskunftei. Ein Bündel dünne Blätter, die aussehen wie Gehaltsstreifen und aus denen hervorgeht, daß Juliane jeden
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