Peter Hoeg
gesagt. »Es sei denn, Sie hätten Interesse an einer Verabredung.«
Demnach sollte die Polizei also eigentlich nichts über mein Privatleben wissen. Woher, frage ich mich, hat der Nagel nun gewußt, daß ich keine Kinder habe? Die Frage kann ich nicht beantworten.
Es ist nur eine kleine Frage. Aber wenn es sich um eine alleinstehende und wehrlose Frau handelt, will die ganze Welt sofort wissen, warum sie, wenn sie in meinem Alter ist, keinen Mann und ein paar bezaubernde kleine Purzel hat. Mit der Zeit wird man auf diese Frage allergisch.
Ich hole ein paar Blatt Unliniertes und einen Umschlag und setze mich an den Eßtisch. Ganz oben schreibe ich: › Kopenhagen, d. 19. Dezember 1993. An die Staatsanwaltschaft Kopenhagen. Mein Name ist Smilla Jaspersen. Ich bitte Sie, diesen Brief als Beschwerde zu behandeln.‹
6
Er sieht aus wie Ende Vierzig, ist aber zwanzig Jahre älter. Er trägt einen schwarzen Thermotrainingsanzug, Spikes, eine amerikanische Baseballmütze und fingerlose Lederhandschuhe. Aus der Brusttasche holt er eine kleine braune Medizinflasche, die er mit einer geübten, fast diskreten Bewegung leert. Es ist Propranolol, ein Betablocker, der die Herzschlaggeschwindigkeit senkt. Er öffnet die eine Hand und sieht sie an. Sie ist groß und weiß, gepflegt und ganz ruhig. Er sucht sich einen Schläger Nummer eins heraus, einen Driver, taylormade , mit einem polierten, glockenförmigen Kopf aus Palisander. Er legt ihn an den Ball und holt aus. Als er zuschlägt, hat er alle Kraft und seine ganzen 85 Kilo auf einen Punkt von der Größe einer Briefmarke konzentriert, der kleine gelbe Ball scheint sich förmlich aufzulösen und zu verschwinden. Er kommt erst wieder zum Vorschein, als er auf dem Green landet, ganz außen, am Rand des Gartens, wo er sich gehorsam in die Nähe der Fahne legt.
»Caymanbälle«, sagt er. »Von McGregor. Früher habe ich immer Probleme mit den Nachbarn gehabt. Die hier machen nur die halbe Strecke.«
Der Mann ist mein Vater, diese Show hat er mir zu Ehren abgezogen, und ich durchschaue sie, sehe sie als das, was sie wirklich ist: die Bitte eines kleinen Jungen um Liebe. Ich denke nicht eine Sekunde lang daran, sie ihm zu schenken.
Von da aus betrachtet, wo ich stehe, gehört die ganze Bevölkerung Dänemarks zur Mittelschicht. Wirklich Arme und wirklich Reiche gibt es nur wenige, sie sind absolute Exoten.
Ich habe das Glück, einen Teil der Armen zu kennen, alldieweil ein Großteil von ihnen Grönländer sind. Zu den richtig Wohlhabenden gehört mein Vater.
Er hat im Hafen von Rungsted eine 67-Fuß-Swan mit drei Mann fester Besatzung liegen. Er hat seine eigene kleine Insel an der Einfahrt zum Isefjord, wo er sich in seine norwegische Blockhütte zurückziehen und zu unbefugt herumstrolchenden Touristen sagen kann, ab geht's, verzieht euch. Er besitzt als einer der ganz wenigen in Dänemark einen Bugatti und hat einen Mann angestellt, der ihn poliert und die zwei Mal im Jahr, die er im Oldtimerrennen des Bugattiklubs an den Start geht, das Konsistenzfett in den Lagern mit einem Bunsenbrenner erhitzen muß. Den Rest des Jahres begnügt er sich damit, ab und zu die Platte aufzulegen, die der Klub herausgegeben hat und auf der man hört, wie eins von diesen herrlichen Fahrzeugen mit der Handkurbel gestartet und gehätschelt und dann das Gaspedal durchgetreten wird. Und er hat dieses Haus, das weiß wie Schnee ist, mit weißverputzten Zementziermuscheln, einem Dach aus Naturschiefer und einer gewundenen Treppe zum Eingang hinauf. Mit Rosenbeeten in einem Vorgarten, der zum Strandvej hin steil abfällt, und einem Garten hinter dem Haus, der für einen Neunlochübungsplatz groß genug gewesen ist und jetzt, wo er die neuen Bälle bekommen hat, gerade noch ausreicht. Er hat sein Geld mit Spritzen verdient.
Er ist noch nie jemand gewesen, der irgendwelche Auskünfte über sich hat durchsickern lassen. Wen es interessiert, der kann im Blauen Buch , dem dänischen Who is Who , nachschlagen und nachlesen, daß er mit dreißig Chefarzt wurde, Dänemarks ersten Lehrstuhl für Anästhesiologie erhielt, als er eingerichtet wurde, und die Krankenhäuser fünf Jahre später verließ, um sich, wie es so schön heißt, seiner Privatpraxis zu widmen. Dann ist er mit seiner Berühmtheit auf Reisen gegangen. Nicht auf die Walz, sondern mit Privatflugzeugen. Er hat den Großen der Welt Spritzen verpaßt. Er hat bei den ersten, bahnbrechenden Herzoperationen in Südafrika für die Narkose
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