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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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gesorgt. Er war mit der amerikanischen Ärztedelegation in der Sowjetunion, als Breschnew starb. Ich habe jemanden sagen hören, es sei mein Vater gewesen, der mit seinen langen Kanülen gewedelt und in den letzten Wochen Breschnews Tod hinausgeschoben habe. Er sieht aus wie ein Hafenarbeiter und pflegt diesen Eindruck diskret, indem er ab und zu seinen Bart stehenläßt. Einen Bart, der jetzt grau ist, aber einmal blauschwarz war und noch immer zweimal am Tag eine Naßrasur braucht, um gepflegt auszusehen.
    Seine Hände sind unfehlbar sicher. Mit ihnen kann er mit einer 15O-mm-Kanüle retroperitonal durch die Flanke und durch die tiefen Rückenmuskeln bis an die Aorta gehen. Dort klopft er mit der Nadelspitze leicht an die große Pulsader, um sicher zu sein, daß er dran ist, und geht dann dahinter und legt an dem großen Nervenplexus ein Depot aus Lidocain an. Das Zentralnervensystem steuert den Tonus der Blutadern. Er hat eine Theorie, daß er mit dieser Blockade etwas gegen die Kreislaufinsuffizienz in den Beinen übergewichtiger Reicher ausrichten kann.
    Während der Injektion ist er so konzentriert, wie es ein Mensch überhaupt nur sein kann. Er denkt an nichts anderes, nicht einmal an die Rechnung über 10.000 Kronen, die seine Sekretärin gerade ausstellt und die vor dem 1. Januar zu begleichen ist, und frohe Weihnachten und ein gesundes neues Jahr, der nächste, bitte.
    Die letzten fünfundzwanzig Jahre hat er zu den zweihundert Golfspielern gehört, die um die letzten fünfzig Eurocards kämpfen. Er lebt mit einer Ballettänzerin zusammen, die dreizehn Jahre jünger ist als ich und ihn anschaut, als lebe sie nur in der Hoffnung, daß er ihr das Tüllröckchen und die Ballettschuhe vom Leibe reißt.
    Mein Vater ist also ein Mann, der alles hat, was sich mit Händen greifen läßt. Und das meint er mir hier auf dem Platz denn auch zu zeigen. Daß er alles hat, was das Herz begehrt. Sogar die Betablocker, die er die letzten zehn Jahre genommen hat, um ruhige Hände zu haben, sind im großen und ganzen ohne Nebenwirkungen.
    Wir gehen auf geharkten Kieswegen um das Haus, der Gärtner Sørensen hat die Rasenkanten im Sommer wieder mit der Friseurschere bearbeitet, und man muß aufpassen, daß man sich nicht die bloßen Füße daran schneidet. Ich trage einen Seehundspelz über einer Kombination aus bestickter Wolle mit Reißverschluß. Von außen betrachtet sind wir Vater und Tochter, voller Vitalität und strotzend vor Kraft. Bei näherem Hinsehen jedoch sind wir nur eine über zwei Generationen verteilte banale Tragödie.
     
    Das Wohnzimmer hat Dielen aus Mooreiche und eine in rostfreien Stahl gefaßte Spiegelglaswand, die auf das Vogelbad, die Rosensträucher und das soziale Gefälle bis hinunter zum Strandvej hinausgeht. Am Kamin steht in Trikot und dicken Wollsocken Benja, sie streckt ihre Fußmuskulatur und ignoriert mich. Sie ist blaß und hübsch und sieht ungezogen aus wie eine Elfe, die Stripperin geworden ist.
    »Brentan«, sage ich.
    »Wie bitte?«
    Sie spricht betont deutlich, wie sie es an der Königlichen Theaterschule gelernt hat.
    »Für die schlimmen Füße, mein Schatz, Brentan gegen Fußpilz. Gibt es jetzt ohne Rezept.«
    »Das ist kein Pilz«, sagt sie kalt. »Den kriegt man ja wohl erst in deinem Alter.«
    »Auch Minderjährige, mein Schatz. Vor allem Leute, die viel trainieren. Und er breitet sich leicht zum Schritt hin aus.«
    Sie zieht sich fauchend in die angrenzenden Räume zurück. Sie hat viel bullige Kraft, aber sie hat auch eine behütete Jugend gehabt und schnell Karriere gemacht. Noch hat sie die Widrigkeiten des Daseins nicht erlebt, die notwendig sind, um eine Psyche zu entwickeln, die immer wieder kontern kann.
    Señora Gonzales serviert den Tee an einem Sofatisch, der aus einer über einen glatten Marmorblock gelegten, siebzig Millimeter dicken Glasplatte besteht.
    »Es ist lange her, Smilla.«
    Er redet ein bißchen von seinen neuen Gemälden, von seinen Erinnerungen, an denen er schreibt, und davon, was er auf dem Flügel übt. Er schindet Zeit, um sich auf die Wucht des Schlages vorzubereiten, der auf ihn niedersausen wird, wenn ich ein Anliegen vorbringe, das nichts mit ihm zu tun hat. Er ist dankbar dafür, daß ich ihn reden lasse. In Wirklichkeit aber machen wir uns nichts vor.
    »Erzähl mir von Johannes Loyen«, sage ich.
     
    Mein Vater war Anfang Dreißig, als er nach Grönland kam und meine Mutter kennenlernte.
    Der Polareskimo Aisivak erzählte Knud Rasmussen,

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