Petersburger Erzählungen: Fischer Klassik PLUS (German Edition)
Realität spürbar.
Der Übergang Gogols zur urbanistischen Thematik vollzog sich nicht zuletzt unter dem Einfluss der französischen ›rasenden Schule‹, insbesondere ihres Vertreters Jules-Gabriel Janin, der die These vom ›Phantastischen in der Wirklichkeit‹ am konsequentesten formulierte. In Janins Sammlung Paris ou Le livre de cent et un (1832) ist die Technik der Großstadtbeschreibung, in L’âne mort et la femme guillotinée (1829) das Motiv der Liebe eines schwärmerischen Jünglings zu einer Dirne vorgebildet. Einen Einfluss auf Gogols Sujet dürften auch De Quinceys Confessions of an English Opium-Eater (1821/22) ausgeübt haben, ebenso wie auch eine Verwandtschaft der Künstlergestalt aus Gogols Novelle mit dem Anselmus aus E. T. A. Hoffmanns Der goldene Topf (1814) unverkennbar ist.
Auf dem Newskij-Prospekt, der Prachtstraße Petersburgs, begegnen sich in der Abenddämmerung zwei konträre Charaktere, der empfindsame Maler Piskarjow und der leichtlebige Leutnant Pirogow. Nach ein paar flüchtigen Worten trennen sich die beiden, um zwei Damen nachzugehen, die ihnen in der Menge aufgefallen sind. Der leicht entflammbare Piskarjow, von der Schönheit des Mädchens fasziniert, muss zu seiner grenzenlosen Enttäuschung feststellen, dass er einer Dirne gefolgt ist. Um die Kluft zwischen seiner idealen Vorstellung vom edlen Wesen der Schönheit und der abstoßenden Wirklichkeit zu überbrücken, nimmt er Zuflucht zu Traum und Opium. Als sein großmütig-verzweifelter Versuch scheitert, das Mädchen zum Verlassen des Bordells zu bewegen, nimmt er sich das Leben. Die Blondine, der Pirogow nachgeeilt ist, stellt sich als die ebenso hübsche wie dumme Frau des deutschen Handwerkers Schiller heraus. Der zudringliche Pirogow wird eines Tages von Schiller und seinen Freunden jämmerlich verprügelt. Nach kurzem Zorn hat jedoch der oberflächliche Leutnant seine anfänglichen Rachegedanken vergessen.
Die im Stil einer komischen Farce erzählte Pirogow-Episode und die tragisch-sentimentale Geschichte des Künstlers Piskarjow werden von der Schilderung des Newskij-Prospekts, einer meisterhaften Wiedergabe der phosphoreszierenden Großstadtatmosphäre, eingerahmt. Die hyperbolisch-ironische Begeisterung des Erzählers geht in eine groteske Beschreibung der »Phantasmagorie« des im Laufe eines Tages sich verändernden Straßenbildes über. In verdinglichender, metonymischer Diktion ist nicht von Menschen die Rede, sondern da werden Backenbärte »wie Samt und Atlas, schwarz wie Zobel oder Kohle, die aber ach! nur dem Auswärtigen Amt zustehen«, Damentaillen, »nicht dicker als Flaschenhälse«, und – in pathetisch-anaphorischer – Rede unnachahmliche Schnurrbärte gepriesen. Hinter dem vordergründig bewundernden Ton des Erzählers wird die Desillusion immer greifbarer und erreicht nach dem traurigen Ende Piskarjows und dem blamablen Abenteuer Pirogows ihren Höhepunkt am Schluss der Novelle: »Er lügt zu jeder Stunde, dieser Newskij-Prospekt, am meisten aber dann, wenn die Nacht sich als dichte Masse über ihn senkt […] und wenn der Dämon selbst die Lampen entzündet, nur um alles in einem falschen Lichte erscheinen zu lassen.« Der Newskij-Prospekt wird so zum Symbol des unter einer schillernden Oberfläche verborgenen Betrugs.
Hans Günther
Aus Kindlers Literatur Lexikon:
Nikolai Gogol, ›Aufzeichnungen eines Irren‹
Der Protagonist der 1835 erschienenen Novelle, der Petersburger Titularrat Poprischtschin, ist ein Vorläufer des kleinen Beamten Akakij Akakijewitsch aus Gogols Šinel’ ( Der Mantel , 1842). Im Gegensatz zu dem unscheinbaren, schließlich gespenstig entschwindenden Akakij schlägt das Minderwertigkeitsgefühl des verachteten Poprischtschin in Größenwahn um. Die Tagebuchaufzeichnungen, die Poprischtschin im Irrenhaus fortführt, spiegeln den fortschreitenden Prozess seiner geistigen Verwirrung wider. Ausgelöst wird die Geistesstörung durch seine unglückliche Zuneigung zur Tochter des Direktors, dem er im Büro die Schreibfedern spitzt. Dass die Dame nur Spott für ihn übrig hat und demnächst einen Kammerjunker heiraten wird, erfährt Poprischtschin aus dem phantastischen Briefwechsel, den die Hunde der verehrten Sofi und des Kammerjunkers miteinander führen. Die so gewonnene Einsicht in die Intimsphäre der höheren Gesellschaft veranlasst Poprischtschin, darüber nachzudenken, »wo alle diese Unterschiede herkommen«, warum er Titularrat und nicht General oder Graf
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