Wolkengaenger
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|7| PROLOG
Ich zwang mich, zu klettern. Ich mag schwache Beine haben, aber meine Arme sind stark, vielleicht sogar genauso stark wie
die der anderen Jungs in meiner Pfadfindergruppe. Unter mir schrien die anderen: »Vorwärts, John! Du schaffst es!« Ich streckte
meinen linken Arm aus, packte das Seil und zog mich nach oben. Ja, sagte ich zu mir selbst, ich schaffe es.
Ich wusste, dass keiner in der Gruppe damit gerechnet hatte, dass ich mich an dem Kletternetz versuchen würde. Einem nach
dem anderen hatte ich auf seinem Weg nach oben hinterhergeschaut. Wie Matrosen am Mast eines Segelschiffs im Wind waren sie
vor und zurück geschwankt, und ich hatte ihnen ansehen können, dass sie alle Mühe hatten, sich hinaufzuhangeln. Ich hatte
Angst, dass sich meine Beine in den Seilen verheddern könnten und unser Gruppenführer mich daraus würde befreien müssen. Oder
dass ich abrutschen könnte und dann wie ein Hampelmann in meiner Pfadfinderuniform am Sicherungsseil baumeln würde. Nachdem
alle Jungs an der Reihe gewesen waren, sah mich der Gruppenführer an und fragte: »Willst du es auch versuchen, John?« Ich
wusste, es wäre okay, wenn ich nein sagen würde.
Ich sah ihm in die Augen. »Ich mach’s.«
Der Gruppenführer legte mir den Sicherheitsgurt an und zog die Gurte um meine Taille und Schultern fest. Dann setzte er mir
einen Helm auf und schloss den Kinnriemen. Ich streckte die Arme aus, umfasste das raue Kletternetz und zog mich nach oben.
Als meine Füße den Boden verließen, schwankte mein gesamter Körper nach hinten, und ich klammerte mich mit |8| aller Kraft fest. Stück für Stück zog ich mich nach oben. Ich begann zu schwitzen und zu schnaufen. Unter mir hörte ich die
anderen rufen: »Weiter, John, weiter!«
Ich streckte meine rechte Hand aus, um ein weiteres Stück Seil zu packen, als ich plötzlich ein Bild vor mir sah: einen kleinen
Jungen, nackt, mit Medikamenten ruhiggestellt, hinter eisernen Gitterstäben, eingeschlossen in einem Zimmer. Dieser Junge
versuchte auch zu klettern. Er versuchte über die Gitterstäbe eines Kinderbetts zu klettern, doch sie waren zu hoch. Er versuchte
es, immer und immer wieder, bis er schließlich völlig erschöpft auf einer blanken Plastikmatratze zusammenbrach.
Ich machte eine kurze Verschnaufpause und hörte die Stimmen von unten rufen: »Nicht aufhören, John! Du schaffst es!« Es war,
als würden sie den kleinen Jungen in meinem Kopf anfeuern. Ja, ich schaffe es, dachte ich, griff nach dem Seil, biss die Zähne
zusammen und zog mich nach oben. Ich schaffe es für diesen kleinen Jungen, der in diesem abgedunkelten Raum, in seinem Gitterbett
vollkommen allein gewesen war.
Der kleine Junge war ich. Als ich sechs Jahre alt war und in einem anderen Land lebte, eine andere Sprache sprach und Iwan
oder kurz Wanja hieß.
Ich erreichte das obere Ende des Netzes und hörte meine Kameraden klatschen und jubeln. Ich sah nach unten und lächelte ihnen
zu. Es war schwierig gewesen – aber nichts im Vergleich zu dem, was der sechsjährige Junge in meiner Erinnerung hinter sich
gebracht hatte. Meine Pfadfinderkameraden wissen nichts von meiner Vergangenheit. Was würden sie sagen, wenn sie es wüssten?
Das hier ist meine Geschichte. Es heißt, ich sei vermutlich das einzige Kind, das die schlimmste aller Einrichtungen im russischen
Kinder-Gulag überlebt und die Chance auf ein normales Leben im Ausland bekommen hat. Bis heute verschwinden Kinder in diesen
einst von Stalin geschaffenen Einrichtungen. Darum glaube ich, dass meine Geschichte erzählt werden muss. Wenn es nur ein
Kind vor der Hölle bewahrt, |9| durch die ich gegangen bin, ist es die Mühe wert, sagt meine Mutter, und sie hat recht.
Im Alter von fünf Jahren wurde ich, genau wie Tausende andere russische Kinder, für bildungsunfähig erklärt und zu »permanenter
Bettruhe« verurteilt – einem trostlosen Dasein in Gitterbetten auf nackten Matratzen. Bis zu meinem zehnten Lebensjahr erhielt
ich keinerlei Bildung, und ich hoffe, dass mein Abschluss an einer amerikanischen Highschool beweisen wird, wie unrecht jene
russischen Experten haben, die Kinder als »Schwachsinnige« abschreiben.
Meine Freunde, die mich aus Russland kennen, fragen mich oft, wie ich es geschafft habe, zu überleben, wo doch so viele Kinder
wie ich bereits vor ihrem siebten Lebensjahr sterben. Ich habe keine Antwort auf diese Frage.
Jedes Buch hat seine Geschichte,
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