Pforten der Nacht
es den beiden Freunden sagen. Jetzt und hier. Er versuchte zu sprechen, aber ihm entrang sich nur ein gurgelnder Ton.
Johannes hob trotzdem aufmerksam den Kopf. Der schmale, blonde Junge und der kräftige, schwarzhaarige mit der stolzen Haltung sahen sich an. Auge in Auge, ohne zu weichen. Schweigend. Wachsam.
»Ist nicht Blut die Essenz des Lebens?« Johannes beendete als Erster den stummen Zweikampf. Sein Ausdruck wirkte leicht entrückt.
So ähnlich hat auch der Prediger ausgesehen, dachte Anna unwillkürlich, der im Frühjahr die Menschenmassen vor dem Dom in Aufruhr und Ekstase versetzt hat. Tagelang hatte es Unruhen in der Stadt gegeben; zwei Tote und viele Verletzte waren zu beklagen.
»Fließt es nicht in allen von uns?«, fuhr Johannes fort. Er dachte dabei an Bruno de Berck, den klugen Franziskanermönch, den er seit Langem heimlich verehrte, und bemühte sich, dessen Tonfall nachzuahmen.
Anna nickte klamm. Hoffentlich war es bald vorüber. Ihr Unterleib war hart und verkrampft. Drinnen stach etwas wie mit tausend Messern.
»Hat nicht Jesus seines für uns vergossen?« Die Stimme des Jungen bekam etwas Ekstatisches. »Das reine Blut des Lamms, es hat uns Menschen errettet und von unseren Sünden reingewaschen.«
Esra zuckte zusammen, aber Johannes bemerkte es nicht mehr. Anna war wie in Trance. Ihr Gesicht schien von innen zu leuchten, und er konnte kaum noch atmen. Es ist zu spät, dachte Esra resigniert, viel zu spät! Was weiß sie schon von mir, von unseren Gesetzen, der Art, wie wir seit jeher leben? Wenn ich jetzt nicht mitmache, hält sie mich für einen Feigling, und ich kann ihr nie wieder unter die Augen treten. Dann hat der andere gewonnen. Wieder einmal. Und damit vielleicht endgültig. Ich hätte früher mit der Wahrheit herausrücken müssen. Jetzt sitze ich hoffnungslos in der Falle.
»Erhebt also eure Hände!«
»Warte«, rief Anna, »einen Moment noch!«
Ohne den Blick von Esra zu lassen, spuckte sie einen kräftigen Schwall auf die Klinge. Johannes blieb nichts anderes übrig, als sein Hemd aus dem geschlitzten Wams zu ziehen und sie damit sauber zu reiben.
»Erhebt eure Hände!«, wiederholte er, deutlich ungeduldiger. »Macht schon!«
Anna gehorchte. Und jetzt schloss sich auch Esra zögernd an.
»Spürt eure Herzen und sprecht mir nach diesen heiligen Eid: Wir drei, Anna, Johannes und Esra, sind hier in dieser Kapelle zusammengekommen, um unser Blut zu tauschen und damit für alle Zeiten zu verbinden. Wir schwören bei unserem Leben, uns gegenseitig zu schützen, uns untereinander zu helfen, keinen von uns dreien jemals zu verraten …«
Während Anna betreten zu murmeln begann, ritzte Johannes als Erstes sein eigenes Handgelenk. Er war tief gekommen. Die Wunde begann sofort zu bluten.
»Jetzt ihr!« Ein Befehl, keine Aufforderung.
Esra schloss die Augen. Und ließ es geschehen. Zu seiner Überraschung tat es nicht einmal weh.
Sie drückten die Wunden aneinander.
»Das Blut formt den Menschen, seinen Körper, seinen Geist und sein Herz. Wir haben es vermischt und gehören jetzt zusammen. Alle für einen. Einer für alle. Für immer und ewig.«
Langsam senkten sie die Hände. Der Bann war gebrochen, der Zauber des Augenblicks verweht, aber noch wagte keiner, etwas zu sagen.
Annas Schwindel verstärkte sich. Wütender Schmerz durchschnitt ihren Körper. Sie biss sich auf die Lippen. Was, wenn sie ernstlich krank wurde? Sie schaute nach unten und erschrak.
»Du blutest ja«, sagte Johannes im gleichen Augenblick. »Da! Dort unten. Überall.« Sein Mund verzog sich leicht. Plötzlich hatte er verblüffende Ähnlichkeit mit seiner Mutter, der herrischen, stets kränkelnden Bela van der Hülst, die aus Flandern eingeheiratet hatte und so stolz auf ihre noble Herkunft war.
Ihre bloßen Füße - ganz blutig. War sie vorhin auf der Gasse in eine Scherbe getreten, ohne es zu bemerken? Aber wieso spürte sie dann nichts?
Vorsichtig hob sie das Kleid, und schon während sie es tat, wusste sie auf einmal, was es war. Das Blut, das den ganzen Schenkel heruntergelaufen war, kam direkt aus ihrem Schoß. Der Fluch der Frauen, so hatte Hilla es genannt und dabei seltsam gegrinst. Die Knechtschaft des Blutes, der außer der Gottesmutter kein sterbliches Weib entrinnen konnte. Ihre Stiefmutter litt lautstark jeden Monat darunter, jammernd, wenn es sie traf, und erst recht wehklagend, wenn es ausblieb und sie sich schwanger fühlte, Frieda, die Magd tat es, wenn sie stöhnend schweres
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