Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)
Erstes Kapitel S tella Alisa Menzel
Es lebte einmal ein Mädchen namens Stella Alisa Menzel, das besaß ein ziemlich großes Stück verzauberten Stoffes. Er war aus glänzendem blauen Seidensatin, übersät mit Sternen und Schneeflocken aus Silberbrokat und mit einem goldenen Faden zusammengenäht.
Stella lebte zu einer Zeit, in der ein verzauberter Stoff nichts Alltägliches mehr war. Sicher, hin und wieder tauchte ein Stück in London auf, nahe der Portobello Road, in Geschäften, die nach Räucherstäbchen rochen und die, so hieß es, von Hexen besucht wurden; oder in einem entlegenen Winkel im Schwarzwald, in zerfallenen Bauernhäusern, in denen es angeblich spukte. Es kursierte auch das Gerücht, ein Antiquitätenhändler aus dem finnischen Ort Pieksämäki hätte auf seiner letzten Reise nach Transsilvanien mehrere Meter davon aufgestöbert; und einige Leute haben einen solchen Stoff sogar im Angebot eines Onlineshops entdeckt, der Tarnumhänge nach Maß für Zauberer herstellte.
Zauberei, Hexerei, Gespensterei hin oder her, Stella aber war weder eine Zauberin noch eine Hexe, noch ein Geist, auch nicht ein Vampir, Werwolf, Engel, Teufel oder sonst eine Art von Fantasyfigur. Nicht, dass sie sich manchmal nicht so benommen hätte wie eine der eben genannten – besonders wie der Teufel. Aber, nein, Stella war eine Normalsterbliche wie wir alle, außer dass sie zufällig rotes Haar hatte, was ein bisschen ungewöhnlich war, aber sie hatte nur wenige Sommersprossen, was wiederum sehr ungewöhnlich für Rothaarige war. Bei ihrer letzten Zählung hatte Stella gerade mal sieben Sommersprossen auf der linken Schulter, drei auf der rechten, neun über der Brust und eine direkt unter dem rechten Nasenloch (was wirklich nicht der günstigste Platz für eine Sommersprosse war. Kleine, alte Damen reichten ihr immer verstohlen ein Taschentuch und flüsterten: «Liebes, putz dir doch mal das … äh … Ding unter der Nase weg»).
Kurz gesagt, Stella war ein gewöhnliches Mädchen, das ein außergewöhnliches Stück verzauberten Stoffes besaß. Nun sollte man unbedingt wissen, dass dieser Stoff nicht verzaubert im Sinne von
magisch
war. Er konnte einen nicht unsichtbar machen oder schöner, als man ohnehin schon war, und er konnte einen Prinzen auch nicht in einen Frosch verwandeln oder einen Frosch in einen Dinosaurier. Trotzdem übte der Stoff auf jeden, der ihn besaß, eine ganz besondere Wirkung aus, denn seine Falten bargen die Kraft, das Leben und die Geschichten seiner Besitzer einzufangen. Das brachte natürlich eine große Verantwortung mit sich, denn wer den Stoff besaß, besaß auch seine Geschichten. So ist es immer gewesen – schon seit aus dem Stoff vor ungefähr hundert Jahren ein Wandbehang gemacht worden war. Dieses Buch erzählt seine Geschichte und das Schicksal einer Familie und eines Mädchens, die in seinem Bann standen.
Zweites Kapitel D er Gartenzwerg
Eines Nachmittags, als Stella noch ein kleines Mädchen war, tobten sie und ihr Freund Mats mit einer Decke über ihren Köpfen im Schrebergarten ihrer Tagesmutter herum. Die heiße Junisonne schickte ihre Strahlen unerbittlich durch einen wolkenlos blauen Himmel, aber unter Stellas seidener Decke – ein Geschenk ihrer Großmutter Josephine zu Stellas Geburt – war es dunkel und kühl. Die blaue Decke war mit silbernen Sternen und Schneeflocken übersät. Der Name, den Stella ihr gab, sobald sie sprechen konnte, passte gut: Schneestern.
Stella und Mats waren einander so verbunden wie Hänsel und Gretel. Mats konnte sich nicht sattsehen an Stellas wippenden orangeroten Locken: wilde, wuschelige Kringel, die strahlenförmig von ihrem Kopf abstanden wie Feuerwerkskörper. Sie wiederum war beeindruckt von seiner Brille mit dem kupferfarbenen Drahtgestell, die seine Augäpfel groß wie Walnüsse aussehen ließ. «Kleiner Professor», nannte ihn Netti, die Tagesmutter. Und das war er auch! Schon in diesem Alter konnte Mats den genauen Zeitpunkt bestimmen, wann ihr Wolkenkratzer aus Duplosteinen einstürzen würde. Und wenn er es tat, lachten Stella und Mats, als wäre der Einsturz das beste jemals erfundene Spiel, während die anderen Kinder von den verstreuten Resten ihrer Mühen so schockiert waren, dass sie zu weinen anfingen. Wenn das passierte, sagte Stella meistens etwas scheinbar Banales – etwas wie: «Kleiner Professor ist schlechter Bauer» –, und die anderen hörten augenblicklich auf zu weinen und brachen in Gelächter aus.
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