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Philosophische Temperamente

Titel: Philosophische Temperamente Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Sloterdijk
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zu denken: nicht mehr im Stil einer philosophischen Theologie der Befreiung alias Entfremdungstheorie, sondern als eine Lehre von dem Ereignis, das den einzelnen freigibt und in dem er sich selbst gestaltet und aufs Spiel setzt. Was er in einem Nachruf auf einen verstorbenen Freund, den christlichen Kantianer Maurice Clavel, bemerkte, läßt sich auch als eine hellsichtige und freimütige Charakteristik seines eigenen Unternehmens lesen: »Er stand im Herzen dessen, was es wahrscheinlich an Wichtigstem in unserer Epoche gibt. Ich will sagen: eine sehr umfassende und sehr
tiefgreifende Veränderung in dem Bewußtsein, das der Okzident sich nach und nach von der Geschichte und von der Zeit gebildet hat. Alles, was dieses Bewußtsein organisierte, alles, was ihm seine Kontinuität gab, alles, was ihm seine Vollendung versprach, zerreißt. Gewisse Leute würden es gern wieder zusammenflicken. Er hingegen sagte uns, daß man – sogar heute – die Zeit anders leben muß. Vor allem heute.« 13

Anmerkungen
    1 Vgl Fr. Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe Bd. 4, München 1980, S. 577.
    2 Der von Nietzsche – nach dem Vorgang von Kant, Marx und Feuerbach – mit angeregte Verdacht, daß die Geschichte der europäischen Metaphysik sich auch als Erfolgsgeschichte einer profunden Unwahrheit oder Halbwahrheit lesen lasse, ist im 20. Jahrhundert in ein Spektrum von tiefreichenden Anklagen entfaltet worden; Heidegger glaubte, in der Geschichte der europäischen Metaphysik und Technik den Vollzug eines umgreifend-heillosen Geschicks der »Seinsvergessenheit« zu erkennen; Adorno sah in ihr den Siegeszug einer zwanghaften, latent paranoiden Identitätslogik; Hermann Schmitz diagnostiziert bereits am Aufkommen der Philosophie deren Führungsrolle bei der Entwicklung eines machtorientierten Vernunfttypus, der auf falschen Abstraktionen, auf irreführenden Dualismen und auf einer tiefen Verkennung der Natur von Leib, Gefühl und Subjektivität gegründet ist; die feministische Kritik denunziert die Mehrheit der Philosophen als Agenten einer machtgestützten androzentrischen Illusionsfabrikation; bei Otto Rank, Peter Sloterdijk u. a. finden sich Ansätze zu einer Kritik der klassischen Philosophie als Medium einer Geburtsvergessenheit, die sich in heroischen, technologischen und idealistisch-spontaneistischen Kompensationen niederschlägt. Alle diese Deutungen haben gemeinsam, daß sie die europäische Philosophie in eine weitgespannte Kritik destruktiver Rationalitätsformen einbeziehen.
    3 Vgl. Marsilio Ficino, Über die Liebe oder Platons Gastmahl (übers, v. K.P. Hasse; hrsg. u. eingeleitet von P. R. Blum), Hamburg 1984, S. 11.

    4 Vgl. Henry Corbin, Histoire de la philosophie islamique , Paris 1986.
    5 Vgl. A. v. Harnack, Dogmengeschichte , Tübingen 1991 (8. Auflage), S. 63 ff. und 112 ff.
    6 Vgl. Ioan P. Couliano, Jenseits dieser Welt. Außerweltliche Reisen von Gilgamesch bis Albert Einstein , München 1995, Kap. 10: »Interplanetare Reise – Die platonische Raumfähre«.
    7 Vgl. hierzu Peter Sloterdijk, Im selben Boot. Versuch über die Hyperpolitik , Frankfurt 1993, Kap. II (S. 26-49): »Staats-Athletik, Vom Geist der Megalopathie«.
    8 Vgl. Werner Jaeger, Paideia – Die Formung des griechischen Menschen , Berlin /New York 1989 (zuerst 1933).
    9 Vgl. Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik , Frankfurt am Main 1973, S. 79 ff.
    10 Vgl. Paul Rabbow, Paidagogia. Die Grundlegung der abendländischen Erziehungskunst in der Sokratik (hrsg. v. Ernst Pfeiffer), Göttingen 1960; Pierre Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike , Berlin 1991 (2. Auflage).
    11 Vgl. Adriana Cavarero, Platon zum Trotz , Berlin 1992.
    12 Vgl. Günter Schulte: Kennen Sie Marx? Kritik der proletarischen Vernunft , Frankfurt am Main/New York 1992.
    13 M. Foucault, »Vivre autrement le temps«. In: Le Nouvel Observateur, Nr. 755, 30. 4.-6. 5. 1979, S.88, hier zitiert aus: Dits et Ecrits, Bd. III., Paris 1994, S. 790. Aus dem Französischen übersetzt von Wilhelm Miklenitsch.

 
     
    Auf Wunsch des Autors erscheint das Werk in alter Rechtschreibung.
     
     
    3. Auflage 2009
    © 2009 Diederichs Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
    eISBN : 978-3-641-04405-3
     
     
    www.diederichs-verlag.de
    www.randomhouse.de

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