Philosophische Temperamente
weiß, Nietzsches Reformatorentraum, eine Gegenrevolution der Gesundheit auszulösen gegen den morbus metaphysicus, der die westliche Welt von den Tagen des Sokrates und des Paulus an mit seinen Hemmungen in Bann geschlagen hatte. Wer die Münze umprägen will, muß die Texte umschreiben, die platonischen nicht anders als die des Neuen Testaments. Nietzsches wichtigste Wirkung dürfte von seinem Talent ausgehen, heiligen Schriften in ernsten Parodien unvermutete entgegengesetzte Bedeutungen zu verleihen. Er hat alte Texte zu neuen Melodien gesungen, und zu alten Melodien neue Texte verfaßt. Sein parodistisches Genie hat alle überlieferten Gattungen der Rede in hohen und niederen Tönen gesprengt. Als Buffo-Religionsstifter hat er die Bergpredigt neu gehalten und die Tafeln vom Sinai neu geschrieben; als Anti-Plato hat er der Seele, die ins Höhere hinaufsteigen will, irdische Macht- und Kraftleitern vorgezeichnet. Man darf bezweifeln, ob seinen Umschriften der Texte und Umleitungen der Kräfte allgemeiner Erfolg beschieden sein sollte. Aber unerledigt und aktueller denn je bleibt der Habitus von Nietzsches Versuchen, den Geist der moralischen
Gesetze dem gegenwärtigen Zeitalter entsprechend neu zu formulieren. Vielleicht kann man von Nietzsches parodistischer Kunst etwas lernen für die Aufgabe, die Tafeln neu zu schreiben, auf denen die Regeln für das Überleben des industriosen Tiers homo sapiens stehen werden. Es könnte sich erweisen, daß die Werte umwerten und der Erde treu bleiben Aufgaben sind, die aufs selbe hinauslaufen.
HUSSERL
Auf die verfängliche Frage, wieviel Gewißheit der Mensch brauche, um sich im Denken zu orientieren, antworten manche unter den Stiftern des neuzeitlichen Philosophierens – vor allem Descartes, Fichte und Husserl – mit der sonoren These, daß weniger als absolute Gewißheit nicht genüge. Mit diesem Anspruch lanciert sich das vom Prozeß der Moderne mehrfach von neuem aufgenommene Projekt einer Philosophie als strenger Wissenschaft. In ihr hat die Idee der Philosophie als Ur-Übung der Strenge überhaupt ihren letzten Anhalt. Als Wissenschaft vor und über den Wissenschaften will das maßgebende strenge Denken das Ganze der gegenständlichen Erscheinungen als aus Leistungen des Bewußtseins aufgebaut erweisen. Ist die eingangs gestellte Frage verfänglich, so deswegen, weil sie mit der Einflüsterung einhergeht, dem Streben nach unbedingter Vergewisserung hafte ein Moment von Bedürftigkeit, ja von existenziellem Elend an. Unbedingte Gewißheit suchen hieße somit fatale Ungewißheit gestehen. Daß die Ruhe der erlangten Gewißheit in einem Grund aus bodenloser Labilität ihre Wurzeln habe: mit diesem Verdacht muß, seit es die modernen metaphilosophischen Motiv-Hinterfragungen gibt, auch das philosophische
Streben nach der Rast der denkenden Seele zu leben lernen. Hier wird erkennbar, wie durch das Projekt Wissenschaft hindurch das seit der griechischen Antike machtvoll wirkende Motiv der Philosophie, der Intelligenz den Heilsweg zu zeigen, auch auf neuzeitlichem Boden noch seine Rechte geltend macht. In der abendländischen Titanomachie zwischen Unruhe und Ruhe schlagen sich die Parteigänger der absoluten Gewißheit auf die Seite der heiligen Immobilität, als wollten sie mit dem Kirchenvater bekennen: Denn unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Evidenz. Die Geister der Moderne scheiden sich an der Frage, ob die Evidenz wirklich erlangbar sei und ob sie, als erreichte, dazu tauge, die ontologische Psychose des unruhigen Tieres zu heilen.
Unter den philosophierenden Weltärzten des 20. Jahrhunderts kommt dem Gründer der Phänomenologie, Edmund Husserl, ein besonderer Status zu. Als Lehrer der denkenden Selbstwahrnehmung entrückte er sich und seine Schüler in ein theoretisches Sanatorium, in dem keine anderen Maßnahmen auf der Tagesordnung standen als Klärungsübungen in der reinsten Luft ausführlicher Beschreibungen. Auf Husserls Zauberberg erlernten die Studenten zuerst und zuletzt die entsagungsvolle Kunst, reine Patienten zu sein; sie übten sich in den schönen Leiden phänomenologischer Geduld angesichts des scheinbar längst Bekannten und Gewußten. Als Lohn der
Patienz wird die Einsicht in die Alltätigkeit der Subjektivität in Aussicht gestellt. Wer jemals einige Zeit in jenem seltsamen Sanatorium der Evidenzen zugebracht hat, weiß etwas über eine Schwüle der Genauigkeit, von der die sorglos sorgenvoll vor sich hin lebenden Weltkinder im
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