Philosophische Temperamente
praktischen Flachland sich nichts träumen lassen. Es gibt eine Dämonie der Explizitheit, zu der nur diejenigen Zugang finden, die sich den exercitationes spirituales der kunstgerecht durchgeführten und ausgeschriebenen Deskriptionen hingeben.
Wer in die Zeit der reinen Beschreibungsübung eintritt, ist gleichsam aus der ablaufenden Lebenszeit herausgenommen, und die Gegenstände der phänomenologischen Meditation versammeln sich auf dem Schreibtisch des Denkenden zu sublimen Stilleben. Sie sind nicht länger naiv begegnende Objekte aus der sogenannten wirklichen Welt, sondern Figuren im absoluten Film der Intentionalität. Für die Dauer seines Exerzitiums tritt der Beschreibende aus der reißenden Zeit des todwärts gelebten Lebens heraus und überantwortet sich der Gegenwart des absoluten Bewußtseins. Mit seiner Anleihe bei dessen Sehkraft unternimmt der Phänomenologe die so befremdliche wie verführerische Aufgabe, das Tausendmalgesehene, Längstbekannte neu ins Thema zu heben, als solle es dabei überrascht werden, wie es dem schöpferischen Bewußtsein im Augenblick der Ur-Erblickung entsteigt. Wie kaum
ein Denker vor ihm hat Husserl die Einheit von Denken und Schreiben zur gestischen Synthese gebracht. Für ihn ist der Schreibtisch, sofern ein wahrer Philosoph an ihm Platz genommen hat, das Fenster zur Wesenswelt; Schauen und Schreiben erweisen sich hier als konvergente Tätigkeiten. Als unermüdliche Übung der schreibenden Hand verrät das Aufzeichnen der phänomenologischen Schauungen seinen kalligraphischen Kern. Philosophie, als Akt beschreibender Vernunft betrieben, wird so von Grund auf als Bürosophie enthüllt; sie setzt sich ins Werk als Tätigkeit eines Intellekts, der Urlaub von der natürlichen Einstellung genommen hat. Der Stuhl des Philosophen, der sich in trockener Ekstase in seine Deskriptionen versenkt, ist Träger eines schauend Sitzenden; aus dem Federhalter des Denkenden fließt die Tinte der ursprünglichen Evidenz: Seine Schriftzüge halten die lebendigen Intuitionen wie geronnenes Licht auf Papier fest. Der eigene Schreibtisch ist der Ort, an dem der Meditierer die Welt als Ganze anwesend sein zu lassen geruht. Als bevorzugter Schauplatz für Thematisierungen von allem, was erscheint, wird der Schreibtisch des Philosophen zum transzendentalen Belvedere. Nur an ihm konnte es zum Revisionsprozeß gegen die Fehlurteile der voreiligen Vernunft kommen, die sich im Alltag wie in der Wissenschaft zu folgenschweren Selbstverkennungen zu verlaufen pflegt. In diesem Prozeß sprach die Phänomenologie
ihr Urteil gegen die Wesensblindheit des vulgären Relativismus und Psychologismus ebenso wie gegen die Subjektivitätsblindheit des szientistischen Objektivismus. In letzter Instanz ist der Schreibtisch des Phänomenologen ein Altar, an dem der Denker als reiner Funktionär des Absoluten amtiert; hier versieht der Philosoph seinen Dienst als Vikar eines klaren Gottes.
Doch der Rückzug der Phänomenologen an die Schreibtische universaler Selbstbesinnung vermochte den Lauf der modernen Welt im Ganzen nicht abzuändern. Wie von einer höheren Gewalt bewegt, strebt die neuzeitliche wissenschaftlich-technische Evolution ihrer Haupttendenz nach auf immer umfassendere Zustände von Naturalismus und Relativismus zu. Die phänomenologischen Wächter des Seienden, die sich als Augen Gottes in transzendentaler Weltanschauung übten, fanden sich zunehmend ausgegrenzt und übergangen von einem Prozeß der Forschung, der die moderne Zivilisation einem integralen technologischen Naturalismus entgegenführt. Schon die gleichzeitigen Psychologien des Unbewußten untergruben das Projekt einer integralen Wissenschaft von den Handlungen des weltkonstituierenden Bewußtseins, und erst recht erwuchs aus den Entwicklungen der kybernetischen Technologie und der globalisierten Kapitalverhältnisse eine Neuwelt von Tatsachen, die einem nicht bewußtseinsbezüglichen Seinsmodus unterstehen. Mehr
und mehr erscheint die Lebenswelt der Moderne durchsetzt von technischen Objekten, die dem Bewußtsein nur eine Oberfläche darbieten: Solche Tasten- und Zeichen-Oberflächen, unter denen sich hochkomplexe Apparate ihren Anwendern zuwenden, lassen sich kaum noch als Phänomene im spezifischen Sinn des Wortes begreifen, da es für sie charakteristisch ist, daß in ihnen das Wesen der Erscheinung den Rücken kehrt. Was technisch wesentlich ist, tritt dem Bewußtsein nicht mehr als Phänomen vor Augen. Angesichts des technischen
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