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Pilot Pirx

Pilot Pirx

Titel: Pilot Pirx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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sondern irgendein Niemand, ein Fremder, der in ihm war, der sich eingeschlichen hatte ... Nein, es war umgekehrt – er, Pirx, steckte in einem anderen, und dieser andere, dieser Jemand blähte sich auf, wuchs ins Unermeßliche, ins Grenzenlose. Er wandelte in unerfaßbaren Räumen, riesengroß wie ein Ballon ... Es war kein Mensch, es war ein Finger, ein gigantischer Finger ... Weiß der Himmel, wo er herkam ... Der Finger verselbständigte sich, es war bedrückend. Erst blieb er starr, dann aber begann er sich zu krümmen, drohend und verrückt zugleich ... Pirx taumelte im Innern dieses abscheulichen, nichtsnützigen Gebildes hin und her, wurde von einer Seite auf die andere geworfen ...
    Der Finger verschwand. Pirx drehte sich. Kreiste. Fiel wie ein Stein, wollte schreien. Um ihn herum war ein Flimmern – etwas Ovales, Gaffendes, Zerfließendes bedrängte ihn, und wenn er sich bemühte, diesem Spuk die Stirn zu bieten, kroch das flimmernde Etwas auf ihn zu, schien ihn sprengen zu wollen ... Er war nur noch ein dünnwandiger Behälter, der zu bersten drohte.
    Und er barst ...
    Er zerfiel in zahllose schwarze Schatten, die wie verkohlte Papierfetzen chaotisch umherflatterten. In diesem Schwanken und Flattern lag eine unbegreifliche Spannung, ein Krampf wie bei einer tödlichen Krankheit. Dieses Nichts, diese unempfindliche, erstarrte Wüste, die einst ein leistungsfähiger Körper gewesen war, schien sich durch Nebelschwaden zum letztenmal zu melden, schien ein letztes Lebenszeichen auszusenden, schien sich zu bemühen, einen andern Menschen zu erreichen, ihn zu sehen, zu berühren ... »Halt!« sagte eine Stimme in ihm. Sie klang erstaunlich nüchtern, aber zugleich fremd. Nein, er war das nicht mehr, es war ein anderer, der ihn ansprach – irgend jemand, der ihn bemitleidete ... Wen? Wo? Aber er hatte ihn doch gehört ... Nein, das war keine wirkliche Stimme ...
    »Ruhig, ruhig ... Andere haben das auch schon erlebt. Davon stirbt man nicht ... Haltung, Haltung ...«
    Die Worte drehten sich im Kreise, bis sie ihren Sinn verloren, bis alles wieder aus den Fugen ging und sich auflöste wie feuchtes graues Seidenpapier. Er schmolz wie ein Schneeberg in der Sonne, wurde hinweggespült, irgendwohin, ohne sich zu rühren.
    Gleich gibt es mich nicht mehr ..., dachte er allen Ernstes, denn das war kein Traum mehr, das war wie der Tod. Nur eines wußte er noch: daß er nicht träumte. Von allen Seiten fiel es über ihn her – nein, nicht über ihn, über sie ... Er hatte sich vervielfältigt, er bestand aus vielen Wesen. Aus wie vielen? Er konnte sie nicht zählen ...
    Was tue ich hier? fragte es in ihm. Wo bin ich? Im Ozean? Auf dem Mond? Ein Versuch ...?
    Pirx glaubte nicht mehr an ein Experiment. Wie denn ..., dachte er. Etwas Paraffin, ein Bassin mit Salzwasser – und der Mensch hört auf zu existieren? Nein, Schluß damit ... Er kämpfte, ohne zu wissen, wogegen er sich auflehnte. Ihm war, als bemühe er sich, einen riesigen Stein aufzuheben, der ihn zu Boden drückte. Er war nicht einmal imstande, vor Anstrengung zu zittern. Im letzten Aufblitzen seines Bewußtseins sammelte er die Kraft, die ihm verblieben war, und stöhnte. Er hörte dieses Stöhnen, das gedämpft klang, wie aus weiter Ferne, wie das Funksignal von einem anderen Planeten.
    Eine Sekunde lang war er nahe daran, aufzuwachen. Er versuchte, sich zu konzentrieren, mit dem Erfolg, daß er in die nächste Agonie versank, die noch schwärzer, noch tiefer war und alles hinwegschwemmte.
    Schmerzen hatte er nicht. Ja, wenn ihm ein Schmerz im Leibe säße, dann wäre es anders! Ein Schmerz würde gewisse Grenzen abstecken, er würde an seinen Nerven zerren und ihm ermöglichen, sich selbst zu erkennen ... Aber das, was ihn festhielt, war eine schmerzlose Agonie, war tote, sich stauende Leere. Er spürte, wie die Luft in ihn drang, nicht in die Lunge, sondern ins Hirn, in ein Chaos zitternder, verkrampfter Gedanken. Stöhnen! dachte er. Nur einmal aufstöhnen, sich selbst hören ...
    »Wenn jemand stöhnen will, braucht er nicht an die Sterne zu denken«, sagte die unbekannte nahe Stimme, die so fremd war.
    Er überlegte. Er stöhnte nicht. Es gab ihn nicht mehr. Er wußte nicht, wer er war. Kalte, zähe Ströme durchdrangen ihn. Aber was am schlimmsten war – nicht einer der »Ertrunkenen« hatte auch nur andeutungsweise davon berichtet, nicht einer hatte erzählt, daß er porös wurde ... Er war ein Loch, ein Sieb, ein Labyrinth mit winkeligen Höhlen

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