Pippi Langstrumpf
sie hat vielleicht irgendwo eine aufgegangene Sicherheitsnadel, die sie sticht.“
Aber Gräfin Aurora war traurig. Sie erhob ihre Augen zur Decke und sagte klagend: „Gibt es einen Menschen, der so unglücklich ist wie ich? Meine Kinder hat man mir genommen, mein Mann ist verschwunden, und ich bin von Schurken und Banditen umgeben, die mich töten wollen!“
„Oh, wie schrecklich ist es, das mit anzuhören“, sagte Pippi und bekam ganz rote Augen.
„Ich wünschte, ich wäre tot“, sagte die Gräfin Aurora.
Da brach Pippi in Tränen aus.
„Liebe Frau, so etwas mußt du doch nicht sagen“, schluchzte sie. „Es wird schon wieder besser werden. Die Kinder werden sich schon zurechtfinden, und du bekommst sicher einen neuen Mann. Es gibt ja so viele M-ä-ä-änner“, stieß sie unter Schluchzen hervor.
Aber da kam der Theaterdirektor – es war der, der vor dem Zelt gestanden und geschrien hatte – und sagte, wenn sie nicht ganz still säße, müßte sie sofort das Theater verlassen.
„Ich will es versuchen“, sagte Pippi und trocknete sich die Augen.
Es war ein furchtbar spannendes Stück. Thomas saß die ganze Zeit da und drehte und drückte vor lauter Nervosität seine Mütze, und Annika hielt die Hände auf ihrem Schoß gefaltet. Pippis Augen waren ganz feucht und verließen die Gräfin nicht einen Augenblick. Der armen Gräfin ging es immer schlechter. Sie ging, nichts Böses ahnend, in den Schloßgarten. Plötzlich hörte man einen Schrei.
Das war Pippi. Sie hatte einen Mann gesehen, der hinter einem Baum stand und schrecklich aussah.
Die Gräfin Aurora hatte wohl auch etwas rascheln hören, denn sie sagte mit erschrockener Stimme:
„Wer schleicht da im Gebüsch herum?“
„Ja, ich weiß!“ sagte Pippi eifrig. „Es ist ein tückischer, abscheulicher Kerl mit einem schwarzen Schnurrbart. Lauf bloß schnell in die Holzkammer und schließ dich ein!“
Jetzt kam der Theaterdirektor zu Pippi und sagte, daß sie augenblicklich verschwinden solle.
„Und die Gräfin Aurora mit so einem Scheusal allein lassen! Da kennst du mich schlecht“, sagte Pippi.
Auf der Szene ging das Spiel weiter. Plötzlich kam der abscheuliche Kerl aus dem Gebüsch und warf sich über die Gräfin Aurora.
„Ha, jetzt ist deine letzte Stunde gekommen“, zischte er zwischen den Zähnen hervor.
„Das wollen wir mal sehen“, sagte Pippi und sprang mit einem Satz auf die Bühne. Sie faßte den Schurken um den Leib und warf ihn in den Zuschauerraum. Sie weinte ununterbrochen.
„Das du so etwas tun kannst!“ schluchzte sie. „Was hast du eigentlich gegen die Gräfin? Denk daran, daß ihre Kinder und ihr Mann fort sind! Sie ist ganz allei-ei-ei-n!“
Sie ging zu der Gräfin hin, die ohnmächtig auf eine Gartenbank gesunken war.
„Du kannst zu mir in die Villa Kunterbunt kommen und bei mir wohnen, wenn du willst“, sagte sie tröstend.
Laut weinend wankte Pippi aus dem Theater. Ihr folgten Thomas und Annika. Und der Theaterdirektor. Er ballte die Fäuste hinter ihr. Aber die Leute im Zuschauerraum klatschten in die Hände und fanden, daß es eine schöne Theatervorstellung gewesen sei.
Glücklich draußen, schneuzte sich Pippi in ihr Kleid und sagte:
„Nein, jetzt wollen wir was Lustiges sehen! Das war zu traurig.“
„Die Menagerie,“ sagte Thomas. „Wir waren noch nicht in der Menagerie!“
Und sie gingen hin. Aber vorher gingen sie zu einem Butterbrotstand, und Pippi kaufte für jeden sechs belegte Brote und drei große Flaschen Limonade.
„Ich kriege immer so einen Hunger, wenn ich geweint habe“, sagte Pippi.
In der Menagerie gab es viel zu sehen. Einen Elefanten und zwei Tiger in einem Käfig und ein paar Seelöwen, die miteinander Ball spielen konnten, und eine ganze Masse Affen und eine Hyäne und zwei Riesenschlangen. Pippi ging gleich mit Herrn Nilsson an den Affenkäfig, damit er seinen Verwandten guten Tag sagen konnte. Da saß ein alter, trauriger Schimpanse.
„Na, Herr Nilsson“, sagte Pippi, „sag hübsch guten Tag! Ich glaube fast, das ist der Urenkel der Tante von deines Großvaters Kusine!“
Herr Nilsson nahm seinen Strohhut ab und grüßte, so höflich er konnte. Aber der Schimpanse hielt es nicht für nötig, auch zu grüßen.
Die beiden Riesenschlangen lagen in einer großen Kiste. Jede Stunde wurden sie von der schönen Schlangenbeschwörerin Fräulein Paula aus der Kiste geholt und von einer Estrade aus vorgezeigt. Die Kinder hatten Glück. Gerade jetzt sollte eine
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